Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
begehen. Die Insel war verseucht von Soldaten und bislang hatte jeder Dieb noch seinen Weg ins Gefängnis gefunden.
»Hast du keine Angst vor mir?« Argwohn sprach aus Ray heraus, zudem fühlte er sich in seiner Ehre gekränkt. Er war bewaffnet, zwei Köpfe größer als die Dame und gerade in Begriff, sie in eine Welt zu führen, die ihr Vorstellungsvermögen vermutlich sprengen würde. Sie hatte gefälligst Angst vor ihm zu haben. Vielleicht war sie auch eine Irre, die aus einer Anstalt entflohen war?
»Sollte ich mich denn fürchten? Wenn du vorhast, mir Gewalt anzutun, wären meine Chancen äußerst gering, dich zu überwältigen, oder?« Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Oder willst du, dass ich wie ein hysterisches Huhn schreie und mich zur Wehr setze? Wenn du ein Perversling bist, dann werde ich dir sicher nicht noch Freude durch weibisches Verhalten bereiten.«
»Vermutlich hast du Recht.« Ray spürte, dass diese Diskussion zu nichts führen würde, deshalb ging er nicht weiter darauf ein. Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Darf ich denn deinen Namen erfahren? Und was hast du auf Falcon’s Eye verloren? Ich gehe nicht davon aus, dass du zu einer der Adelsfamilien gehörst.«
»Ich heiße Jil. Und nein, ich wohne nicht auf dieser Insel, da liegst du ganz richtig. Ich lebe von dem, was ich finde. Und hier gibt es vielleicht eine Menge für mich zu finden.« Sie warf ihm einen undeutbaren Seitenblick zu.
»Du meinst: zu stehlen.«
Jil ignorierte seinen Kommentar. »Dürfte ich denn auch erfahren, wer du bist und weshalb du in einem Loch unter der Erde wohnst? Das finde ich wesentlich interessanter.«
Ein Teil seines Unterbewusstseins warnte Ray vor dieser Frau. Sie schien mehr zu wissen, als sie zugab. Wenn sie versuchte, es zu verbergen, war sie eine schlechte Lügnerin. Er freute sich schon jetzt auf den Moment, wenn er ihr das Gedächtnis löschen und sie zurück an die Oberfläche setzen würde. Er hatte ihr das Leben gerettet, aber besonders dankbar zeigte sie sich nicht.
»Ich heiße Ray. Und weshalb ich hier unten lebe, ist eine lange Geschichte und für dich vollkommen uninteressant, weil du es eh bald vergessen haben wirst. Und da du dich scheinbar kein bisschen fürchtest, sehe ich auch keinen Grund, dir mehr zu erzählen als nötig.«
Sie erreichten den großen Flur im Zentrum ihres Quartiers. Von hier aus zweigten alle Zugänge zu den Privatunterkünften und Trainingsräumen ab. Ray lauschte in die Stille hinein. Niemand hielt sich in den Gängen auf. Eine Woge der Erleichterung durchflutete ihn. Es war besser, wenn niemand ihn mit dieser Frau hier unten sah. Das Gespött seiner Kameraden wollte er sich ersparen.
»Wo genau befinden wir uns?«, fragte Jil. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. Ray wies sie mit einer Handbewegung an, still zu sein. Zügig führte er Jil durch eine Tür, um weitere zwei Ecken herum und blieb schließlich vor dem Zugang zu seinem Privatquartier stehen. Hastig zog er den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür und bugsierte Jil hinein. Erst als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, atmete er erleichtert auf. Er betätigte den Lichtschalter. Jil ließ sich unaufgefordert auf einen Stuhl fallen.
»Und wie geht es jetzt weiter?« Jil zog die Augenbrauen hoch. Sie presste ihren kleinen Mund mit den vollen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
»Ich gebe dir frische Kleidung und versorge deinen Fuß. Je eher du wieder weg bist, desto besser.«
Sie stieß ein kaltes Lachen aus. »Weshalb hast du mich dann vor dem Wildschwein gerettet und mich mit hierher genommen, wenn meine Anwesenheit dir doch so unangenehm ist?«
Die Frage war berechtigt. Ray schien ein Mann der falschen Entscheidungen zu sein. »Ich entschuldige mich für mein Mitleid«, stieß er hervor. Er setzte sich auf das Bett. Sein Kopf schmerzte, er fühlte sich müde und erschöpft. Er brauchte dringend Nahrung. Der Aufenthalt im Tageslicht hatte ihn geschwächt. Am Abend würde er Lesward aufsuchen und ihn um neue Energie bitten müssen. Ray hasste es, der Bittsteller zu sein. Für einen kurzen Augenblick zog Ray die Möglichkeit in Betracht, Jil als Energiespenderin zu benutzen. Er verwarf den Gedanken sogleich. Das verstieß gegen seinen Kodex. Niemals würde er sich dieser Art der Nahrungsaufnahme hingeben.
Ray ließ Jils Frage unbeantwortet im Raum stehen. »Weshalb bist du so kaltschnäuzig?«, fragte er stattdessen. »Tust du nur so, weil du
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