Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
Tür hinter ihm. Sicher würde Jil sich jetzt nicht an den Schreibtisch setzen und ein Buch lesen. Ray hoffte, dass sie zumindest seine Möbel nicht zerlegen würde. Er zog seine Taschenuhr heraus. Es war drei Uhr nachmittags.
»Scheiße«, fluchte er. Kein Wunder, dass niemand in den Gängen ist. Die Besprechung hat schon vor einer Stunde angefangen.
Ray stand absolut nicht der Sinn nach einer Versammlung, aber er hatte schon beim letzten Mal durch Abwesenheit geglänzt. Man hielt ihn ohnehin für einen starrköpfigen Sonderling.
Mit noch schlechterer Laune als zuvor trat Ray den Weg zum Konferenzraum an. Missmutig öffnete er die große Holztür. Wie erwartet, richteten sich augenblicklich alle Augen auf ihn. Ray presste den Kiefer aufeinander, bis seine Zähne knirschten. Sollten sie doch woanders hin glotzen.
Lesward saß am Kopf der rechteckigen Tafel auf einem Lederstuhl, die Füße lässig auf die Tischplatte gelegt. Entlang des Tisches saßen die restlichen dreizehn Ordensmitglieder. Die kleine Gaslampe, die über ihnen an der Decke hing, spendete nur kümmerliches Licht und warf groteske Schatten auf die Gesichter seiner Kameraden.
»Ray, wie schön, dass du auch noch kommst«, sagte Lesward. Ray glaubte, eine Prise Zynismus wahrgenommen zu haben. Er knurrte und setzte sich auf den letzten freien Stuhl am Ende der Tafel. Die ersten Vartyden schienen das Interesse an ihm zu verlieren und wandten den Blick ab. Nola, eine hübsche blonde Frau, die auf dem Platz neben Ray saß, legte ihre kleine Hand auf seinen Unterarm. Trotz ihrer Zierlichkeit war Nola eine ausgezeichnete Kämpferin.
»Ray, du siehst furchtbar aus«, flüsterte sie ihm zu. Währenddessen hatte Lesward damit begonnen, seinen Vortrag fortzuführen.
»Mach dir keine Sorgen, mit mir ist alles in Ordnung«, sagte er.
»Du brauchst Nahrung.«
Ray sah ihr in die großen blauen Augen. Es lag ehrliches Interesse in ihrem Blick. Er seufzte.
»Ich weiß selbst, wann ich Nahrung brauche und wann nicht. Aber danke für dein Mitgefühl.«
»… werden am Abend Liam, Phil, Cole und ich das Gelände rund um den Friedhof überwachen«, sagte Lesward. »Nola und die anderen gehen der Spur nach, auf die Cole uns gebracht hat.« Sein Blick fiel auf Ray und blieb an ihm haften. Ein schelmisches Lächeln huschte über seine Züge. »Und falls unser Ray es bis heute Abend geschafft haben sollte, etwas Nahrung aufzunehmen, kann er sich uns anschließen. Es sei denn, er legt wieder einmal wert darauf, allein loszuziehen und sich in Schwierigkeiten zu bringen.«
Ray spürte Verärgerung in sich brodeln. Er schätze Lesward als Anführer und Autoritätsperson, aber in Momenten wie diesem merkte Ray, dass er keine Freunde hatte. Es stimmte, Ray war ein Einzelgänger. Eine überaus schlechte Eigenschaft für ein Ordensmitglied, dessen Überleben maßgeblich von der Zusammenarbeit mit anderen abhing. Wohin ihn sein Starrsinn geführt hatte, hatte Ray vor fünfzig Jahren am eigenen Leib erfahren. Dass Lesward immer noch darauf herumtrampelte, sah ihm ähnlich.
Ray ging auf Leswards Sticheleien nicht ein. Er hatte sich heute bereits hinreichend provozieren lassen. Den Rest der Besprechung ließ Ray an sich vorüberziehen, ohne aufmerksam zuzuhören. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ständig dachte er darüber nach, was er mit Jil anfangen sollte, bis ihr Fuß verheilt war. Er zog ernsthaft in Betracht, ihr das Gedächtnis schon heute Nacht zu löschen, Verletzung hin oder her. Was interessierte ihn eine Menschenfrau?
Als Lesward die Versammlung für beendet erklärte, hatte Ray noch immer keine Entscheidung getroffen. Er beschloss, seine Gemächer nach der Versammlung zunächst zu meiden. Wenn er jetzt zurückginge, würde Jil ihn vermutlich wieder bis an den Rand seiner Beherrschung treiben. Er musste dingend seine Wut abbauen, um dem Biest noch einmal entgegen treten zu können.
Als Ray den Trainingsraum betrat, war es herrlich still um ihn herum. Er betätigte den Lichtschalter. Lesward hatte darauf bestanden, in ganz Varyen elektrische Leitungen verlegen zu lassen. Wenigstens ein bisschen Luxus. Seit jeher hatten die Sedharym ihre eigene Industrialisierung erlebt, selten hatten sie auf die Erfindungen der Menschen zurückgegriffen. Obwohl es schade war, dass die sonderbaren Dampfmaschinen Varyens allmählich der menschlichen Technik wichen, war es doch für alle besser so. Lesward hatte Ray einmal von den riesigen stinkenden Feuerstellen in
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