Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
gleichermaßen die Freiheit raubten als sei es ihr Geburtsrecht. Etwas zu stehlen, um selbst zu überleben, war eine Sache. Aber was die Vartyden sich leisteten, war einfach ungeheuerlich. Nichts war heiliger und unantastbarer als Freiheit und Selbstbestimmung. Und Rays unglaubliche Arroganz verstärkte das negative Bild nur noch weiter.
Plötzlich blieb Ray stehen. Es war vollkommen dunkel. Nur einen Lidschlag später vernahm Jil das bekannte Knacken und Zischen einer durch einen Dampfmotor betriebenen Tür. Dann fiel Tageslicht in den schmalen Gang. Sie blinzelte. Es war später Nachtmittag, die Sonne warf bereits lange Schatten. Hinter der Tür führte eine Treppe nach oben. Jil legte den Kopf in den Nacken und sah die Baumkronen einiger mächtiger Eichen, vermutlich befanden sie sich wieder einmal in einem Park oder auf einem unbebauten Grundstück.
»Weshalb verträgst du das Tageslicht?«, fragte sie. »Die Sedharym meiden es.«
Ray packte jetzt mit beiden Händen nach ihren Oberarmen, drehte sie herum und sah ihr eindringlich in die Augen. »Eine Weile lang können wir es aushalten. Seit wir das Sedhiassa besitzen, sogar noch ein Weilchen länger. Trotzdem entzieht uns das Sonnenlicht mit großer Geschwindigkeit Energie. Und da meine Vorräte ohnehin dürftig sind, bleibe ich mit dir hier unten stehen, wenn du verzeihst.«
Jil spuckte ihm ins Gesicht. Ray wich erschrocken einen Schritt zurück, jedoch ohne sie aus seinem eisernen Griff zu entlassen.
»Du arrogantes Arschloch«, fauchte Jil. »Was gibt euch das Recht, den Sedharym das Licht vorzuenthalten?«
Rays Augen blitzten gelblich. »Jetzt hab ich aber die Schnauze voll von dir und deinem Klamauk.«
Er legte ihr eine Hand auf die Stirn, Jil schlug gegen seinen Unterarm, aber er war wesentlich stärker als sie. Sie spürte, wie die Stelle, an der er sie berührte, kühl wurde. Es war wie das Gefühl kurz vor dem Einschlafen, wenn man verzweifelt versuchte, noch einen letzten klaren Gedanken zu fassen.
Mit einem verzweifelten Versuch, sich zu befreien, riss Jil ihr Knie in die Höhe. Sie verfehlte ihr Ziel nicht. Scheinbar hatte auch ein Vartyd eine empfindliche Stelle. Augenblicklich ließ der Druck auf ihre Stirn nach. Ray zog seine Hände zurück und ging mit einem obszönen Fluch auf den Lippen in die Knie.
Jil wandte sich um und stürzte die kleine Treppe hinauf, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Ray würde bald wieder auf die Beine kommen. Seinen enorm schnellen Bewegungen würde Jil nicht entkommen können, egal, wie groß ihr Vorsprung auch sein mochte. Sie war sich dessen bewusst, trotzdem rannte sie mit großen Schritten ihrer Freiheit entgegen. Den dumpfen Schmerz in ihrem Fuß ignorierte sie.
Die Tür zum geheimen Gang unter der Erde befand sich auf einer brachliegenden Fläche von nicht mehr als hundert Yards Breite. Schnell hatte Jil eine belebte Straße erreicht. Wenn Ray sie bis hierher verfolgen wollte, würde er große Vorsicht walten lassen müssen. Jil wagte es, den Kopf zu drehen und hinter sich zu spähen. Ray war nirgends zu sehen.
Erst als Jil sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnte, blieb sie stehen. Sie befand sich in einer der zahlreichen Einkaufsstraßen von Haven, rings um sie herum wuselten Menschen umher wie Ameisen.
Ich habe großes Glück, dass mein Fuß nicht ernsthaft verletzt war. Sonst hätte ich das niemals geschafft .
Vermutlich hatte Jils spontaner Fluchtversuch auch Ray in Erstaunen versetzt. Jil konnte sich nicht vorstellen, dass es an den Folgen ihres Tritts lag, dass er nicht versucht hatte, sie einzuholen. Vielleicht waren seine Energievorräte tatsächlich verbraucht. Jil ließ sich auf die Knie sinken und drückte dem Asphalt einen Kuss auf.
Freiheit, du hast mich wieder .
Einige Menschen drehten sich nach ihr um und warfen ihr teils verstörte, teils mitleidige Blicke zu. Doch Jil störte sich nicht daran. Sie hatte sich noch nie dafür interessiert, was andere von ihr dachten.
»Nanu, was machst du denn hier?«
Jil stand vom Boden auf und wandte den Kopf. Ein Mann stand neben ihr, sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil das Sonnenlicht sie blendete. Nur langsam schärfte sich das Bild.
»Firio? Oh Firio!« Jil umarmte ihn stürmisch. Der Straßenmusiker wusste nicht, wie ihm geschah, denn er blieb steif stehen wie eine Puppe. Er war derart herzliche Empfänge von Jil nicht gewohnt.
»Jil, was ist denn los mit dir?«, fragte Firio. Sein Mund verzog sich zu einem
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