Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
er, kaum mehr als ein Flüstern. Jil hasste ihn dafür, dass er es ausgesprochen hatte. Bis zuletzt hatte ein kleiner Teil von ihr noch gehofft, Dana lebend und wohlauf zu finden. Tränen der Wut und der Verzweiflung rannen ihre Wangen hinab, sie wimmerte. Ray stand wie angewurzelt neben ihr und rührte keinen Finger. Sie hätte ihn ohnehin von sich gestoßen, wenn er versucht hätte, sie tröstend zu umarmen. Plötzlich empfand sie seine Anwesenheit als störend. Sie wollte mit sich und ihrer Wut allein sein. In ihrem Inneren schrie sie ihren Schmerz aus voller Kehle heraus, doch mehr als ein Schluchzen wollte nicht über ihre Lippen kommen. Sie wandte sich von Ray ab und ging mit langsamen Schritten über die Straße. Jil näherte sich mit großer Vorsicht der kleinen Begrenzungsmauer, als lauere dahinter ein hungriges Ungeheuer. Ihre Blicke zuckten panisch zwischen der Mauer, dem Gebäude und dem hüfthohen Unkraut hin und her. Mit kleinen Schritten näherte sie sich, bis ihre Fußspitzen gegen die steinerne Begrenzung stießen. Dann sah sie das Blut, das an den Blättern mehrerer Brennnesselpflanzen dahinter klebte, und schließlich fiel ihr Blick auf die beiden Leichen, die rücklings im Gras lagen. Jil schlug sich die Hände vor den Mund und unterdrückte einen Schrei. Es waren zwei Männer, in deren Kopf jeweils ein hässliches blutiges Loch klaffte. Ihre Augen waren geöffnet, der Blick starr in den Himmel gerichtet. Es wirkte, als hätte sie jemand hingerichtet, als sie ahnungslos auf der Mauer gesessen hatten.
Jil atmete tief ein und unterdrückte das Bedürfnis, sich zu übergeben. Sie ermahnte sich zur Ruhe, immerhin waren dies nicht die ersten Leichen, die sie in ihrem kurzen Leben zu Gesicht bekommen hatte. Was war nur mit ihr los, dass sie so schnell die Fassung verlor?
Mit zittrigen Beinen stieg sie über die Mauer hinweg, den Kopf von den beiden Toten abgewandt. Viele der wilden Kräuter waren zertreten, das hohe Gras war sogar fast gänzlich platt getrampelt, als wären hier kürzlich viele Füße entlang gegangen. Die hohen Sandsteinmauern des Herrenhauses ragten bedrohlich über der Szene auf, dunkle Fenster starrten wie Augen aus ihren dunklen Löchern. Ihre Konturen schienen zu verschwimmen, als blickte man durch eine Nebelwand. Jil wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht, aber es waren nicht die Tränen in ihren Augen, die diesen Eindruck erweckten. Das Haus löste sich auf, man konnte beinahe dabei zusehen, wie es an Farbe verlor. Jil schluckte und senkte den Blick. Sie musste sich nun auf das konzentrieren, was wichtig war. Ray hatte geschworen, dass er Dana in diesem verwilderten Garten das letzte Mal gesehen hatte.
Eine dritte Leiche schob sich in ihr Sichtfeld, als Jil sich den hohen Holundergebüschen näherte. Wieder war es ein Mann und wieder ein Kopfschuss, der ihn getötet hatte. Körpergröße, Statur und Bekleidung ließen keinen Zweifel offen, dass es sich um einen Sedhar handelte. Er lag mit aufgerissenen Augen halb auf der Seite, die Gliedmaßen in einem unnatürlichen Winkel vom Körper abstehend.
Jil hob den Kopf und warf einen kurzen Blick rüber auf die andere Straßenseite, wo Ray noch immer reglos und kreidebleich verharrte. Ihre Blicke trafen sich für die Dauer eines Herzschlags, bevor Ray die Augen niederschlug.
Jil setzte ihren Weg durch den Garten fort, die Übelkeit nahm mit jedem ihrer Schritte zu. Nur wenige Yards vom Fundort der letzten Leiche erblickte sie einen dunklen Schopf im Gras. Ihr Herz machte einen Sprung, kurzzeitig stockte ihr der Atem. Wie in Trance bewegte sie sich auf die Stelle zu. Da war sie. Dana. Sie lag rücklings im Gras, beide Hände auf eine Wunde in ihrer Brust gepresst. Ihr Kopf lag halb auf der Seite, die Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht war entspannt. Sie trug ein abgenutztes, zerfetztes Männerhemd, das mit roten und bräunlichen Flecken übersät war. Jil hatte das Gefühl, dass ihre Beine jeden Moment unter ihr nachgaben, deshalb ließ sie sich neben ihrer Schwester auf den Boden fallen. Zitteranfälle überfielen sie, ihr gesamter Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. Sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Was hatte sich nur hier ereignet? Wer hatte ihrer Schwester das nur angetan? Sie hatte es nicht verdient. Dana war immer diejenige gewesen, sie sittsam, tugendhaft und aufrichtig gewesen war. In Jil breiteten sich Schuldgefühle aus wie Gift, obwohl sie sich sicher war, dass Dana ihr Schicksal durch
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