Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
drittrangiger Magier hätte den Bolzen verhexen können – vielleicht dieser Schüler, der an der Verhexung des Kästchens beteiligt gewesen war.
Im Gegensatz zu den meisten Magiern besaß Tam keine natürliche Begabung zum Heilen, obgleich er durch harte Arbeit ein gewisses Geschick dafür entwickelt hatte. Er war ein Meister der Materie, nicht der Lebensenergie. Hatte er den Bolzen womöglich deshalb nicht gespürt? Konnte er eine andere Magie, die gleichermaßen lebensbedrohlich war, nicht bemerken, weil es ihm an Feinsinn mangelte?
Er dachte an den Magier, den er im erzherzoglichen Palast wahrgenommen hatte. Die Lebensenergie war nachtgeboren, die Magie jedoch schattengeboren. Konnte der Erzherzog der Nachtgeborenen wissen, was er da beherbergte? Sejanus Plantageter hegte zwar ein tiefes Misstrauen gegen Magie, aber sobald es darum ging, auf die Einhaltung des Gesetzes zu achten, präsentierte er sich geradezu übertrieben gewissenhaft – besonders wenn es Magier oder Lichtgeborene betraf. Oder wurden die Nachtgeborenen etwa auch von den Schattengeborenen angegriffen? Immerhin hatten sie unter deren Brandstiftungen am schlimmsten zu leiden gehabt.
Sollte es sich tatsächlich um diesen schattengeborenen Schüler handeln oder um einen nachtgeborenen Magier, der sich mit den Schattengeborenen verbündet hatte, so gab es nur einen Weg sicherzustellen, dass er nicht noch mehr Schaden anrichten konnte. Tams Gewissen würde es nicht zulassen, jemanden allein aufgrund von Vermutungen zu töten, doch nach zwanzig Jahren in Lukfers Umfeld wusste er, wie man die Magie eines anderen Magiers bannen konnte. Und indem er das tat, würde er vielleicht genug über die Absichten des anderen erfahren, um zu wissen, welche zusätzlichen Maßnahmen er zu ergreifen hatte.
Tam wollte Lukfer nichts davon erzählen; der ältere Magier würde sich nur Sorgen machen, und der Umstand, dass Tam die Aufmerksamkeit der Tempelwache auf sich ziehen könnte, würde ihn noch mehr beunruhigen. Allerdings bezweifelte er, dass sich die Tempelgrößen überhaupt mit einem Angriff auf einen unbekannten, niederrangigen Magier der Nachtgeborenen befassen würden. Aber um Fejelis zu beschützen, war es das Risiko allemal wert. Tam musste nur noch diese nicht enden wollende Stunde überstehen und Fejelis im Anschluss in dessen Gemächer zurückbringen, damit dieser sich in Sicherheit erholen konnte – dann würde er sich um diesen Magier kümmern und um dessen Magie.
Telmaine
Nach unruhigem Schlaf voller sonderbarer Träume und unzähliger Sorgen wurde Telmaines Abendtoilette von der Ankunft ihrer Mutter unterbrochen, und kurz darauf erschien auch Merivan. Telmaines Bruder, der Herzog, hatte eine Einladung zum Frühstück im erzherzoglichen Palast erhalten, und da seine Herzogin noch in der Sommerresidenz auf ihrem Landgut weilte, sollte seine Mutter ihn unterstützen. Die Herzoginwitwe hatte aus Telmaines Garderobe zwei der besten Kleider für den frühen Abend mitgebracht und beaufsichtigte Telmaines Zofe mit besorgter Miene, doch als Telmaine sie nach den Gründen fragte, sagte sie nur: »Das besprechen wir später, Liebes.«
Telmaine hatte damit gerechnet, dass sie zu einem der privateren Empfangsräume der obersten Etage geleitet würden, aber ihr Weg führte sie in den zentralen, öffentlichen Teil des Palasts und nach unten ins Erdgeschoss zu dem großen Ballsaal. Ein steter Menschenfluss – aus Pärchen und Familien mit deren Gefolge – strömte durch den Haupteingang, durchquerte das großzügige Foyer und verschwand im Ballsaal. Telmaine schickte ihre Magiersinne voraus, und die Dichte an Lebensenergie, die ihr entgegenschlug, brachte sie ins Stolpern. Der gesamte Ballsaal war hergerichtet worden und füllte sich mit Menschen.
Hinter ihr zischte Merivan schroff: »Was ist denn?«
Nachdem Telmaine sich vergewissert hatte, dass sie in dieser Menschenmenge keinen Makel eines Schattengeborenen wahrnahm, gewann sie sowohl ihr körperliches, als auch ihr nervliches Gleichgewicht zurück. »Ich war nur ein wenig erschrocken«, sagte sie. »Als du von Frühstück sprachst, hatte ich eigentlich etwas Kleineres erwartet.«
»Prinzessin Telmaine.« Ein Lakai trat an ihre Seite. »Fürst Vladimer bittet Sie um einen Moment Ihrer Zeit.« Noch während er das sagte, führte ein anderer Lakai ihre Mutter, ihren Bruder und ihre Schwester in den Ballsaal. Telmaine folgte ihm durch den Gang zwischen bereits sitzenden Gästen und einsatzbereiten
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