Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
Magie. Später erzählte man Tam, er habe den gesamten Balkon angehoben . Er wusste nur noch, dass er sich über Fejelis gebeugt wiedergefunden und ihm den blutigen Stoff rings um den Bolzen weggerissen hatte, während seine Magie gleichzeitig an dem tödlichen Zauber zerrte. Dann spürte er entsetzt, wie sein eigenes Herz plötzlich ins Stocken geriet, seine Hände taub wurden und der Bolzen sich vor seinen Augen verdunkelte, als sich dessen Magie nun seine Lebensenergie vornahm.
Bis Lukfer ihm zu Hilfe kam und den Kern der Magie mit einer geübten Drehung aushakte.
Der Bolzen hatte Fejelis’ Lunge durchbohrt und steckte in einer Rippe. Da die Spitze aus Elfenbein bestand, konnte sie von Fejelis’ Talisman zum Schutz vor Metallkugeln genauso wenig abgewehrt werden wie das Holz des Bolzens. Zudem war sie mit Widerhaken versehen, um das Fleisch zu zerreißen, sobald der Bolzen herausgezogen wurde. Tam knurrte und fühlte, wie das Holz durch die Schwingungen vibrierte, sich dann verbog und verdorrte wie ein Stock im Feuer und schließlich auch die Widerhaken zusammenschrumpften. Er zog den Bolzen heraus und warf ihn beiseite; er wusste nicht, wohin oder zu wem, und es war ihm auch egal. Fejelis drohte, an seinem Blut zu ersticken – ein grässlich vertrautes Geräusch. ›Lukfer!‹ Trotz der Gefahr griff er nach dem anderen Magier und spürte, wie eine wahre Flut an Lebensenergie in ihn einströmte. Mit diesem Übermaß an Energie machte er sich fieberhaft daran, die Blutgefäße zusammenzupressen, das geschädigte Gewebe zusammenzuziehen, das Blut aus Fejelis’ Lungen und Luftröhre zu entfernen und die verletzte Haut zu schließen, wobei er dermaßen schroff über die Wunde wischte, dass sie flimmerte wie die Luft über heißer Milch. Dann zog er Fejelis auf seinen Schoß.
»Lappen«, krächzte er. Irgendjemand reichte ihm ein Tuch, und nachdem er Fejelis umgedreht hatte, wischte er ihm das Blut von Lippen und Wangen und aus seinem blonden Haar. Tam nahm kaum wahr, dass es nicht Fejelis’ Name war, den er flüsterte, sondern der seines vor Jahren verstorbenen jüngeren Bruders. Dieses Mal jedoch wiegte er einen noch atmenden Körper, keinen reglosen, der im Tod langsam erstarrte.
Tammorn
»Hier«, sagte Hauptmann Lapaxo und trat beiseite, beeilte sich, Tam aus dem Weg zu gehen und diesem und Fejelis den Blick auf den Balkon und das schwarze Segeltuch freizugeben. Darunter lugte, halb verborgen, eine Armbrust im Stil der Südländer hervor, aus Holz und Horn, mit einer kräftigen Sehne. Ein Blick zur Seite bestätigte, dass Orlanjis’ Balkon von hier einsehbar und keine siebzig Meter entfernt war. Mittlerweile hatten die Schatten den gesamten Balkon eingenommen, und über ihren Köpfen tauchte die untergehende Sonne die Wolken in goldenes Licht. Wäre er nicht noch dermaßen erfüllt von geborgter Lebensenergie, hätte er am ganzen Körper gezittert.
Fejelis bückte sich, hob den Rand des Segeltuchs an, betrachtete die braunen Überreste eines zersetzten Lichtgeborenen und ließ es wieder sinken. Der Blick des Hauptmanns der Palastwache wanderte über Fejelis’ blasses Gesicht, über das blutige, zerrissene Hemd und das getrocknete Blut an dessen Wange – er zuckte sichtlich zusammen.
»Können Sie schon irgendetwas dazu sagen?«, fragte Fejelis an Tam gewandt. »Wer war er?«
Das Leben war genau in dem Moment aus ihm gewichen, als der Schütze das Segeltuch über sich gezogen hatte. Oder es ihm übergezogen wurde, korrigierte Tam sich selbst; Mord war keinesfalls auszuschließen. Verflüchtigt hatte sich auch jede Spur von Hexerei. Die Magierwache hatte nichts gespürt. »Nein«, antwortete er. »Ich vermute, es gibt nichts, was ihn oder sie identifizieren könnte.«
»Das ist eine südländische Armbrust«, sagte der Hauptmann.
Fejelis drehte den Kopf und sah ihn an, mit Augen so unergründlich wie Spiegel. »Und wie viele Experten im Umgang mit dieser Waffe gibt es im Norden?«, fragte er ruhig, »Ihre Leute eingeschlossen?«
Der Hauptmann senkte den Kopf. »Prinz«, sagte er kleinlaut.
»Bleiben Sie für alles offen, Hauptmann«, riet ihm der Prinz. »Auf dem Balkon standen immerhin zwei Männer; der Bolzen hat unter Umständen nicht einmal den richtigen getroffen.«
Glauben Sie das wirklich? Die Frage hing unausgesprochen in der Luft. Orlanjis hatte hysterisch darauf bestanden, der Schütze habe auf ihn gezielt, und Fejelis habe ihn aus der Schusslinie gestoßen und ihm somit das Leben
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