Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
nur noch wenige hundert Meter. Sie könnten mir den Revolver ebenso gut zurückgeben, wenn Sie ihn nicht benutzen wollen.«
Mit verkniffenem Mund schüttelte sie den Kopf. Er zuckte mit den Achseln, einschultrig, und trat zurück, um sie durchzulassen.
Die wenigen hundert Meter fühlten sich an wie mehrere Meilen. Ihre Schuhe waren für derart rutschige Steinplatten nicht gemacht und auch nicht dafür, weite Wege zu laufen, außerdem trug sie weder einen Mantel noch ein Schultertuch über ihrem leichten Kleid. Selbst als sie ihre Handschuhe wieder anzog, fühlten sich die Hände eisig an. Am meisten jedoch fehlte ihr das Gefühl von Balthasars Liebesknoten um ihren Hals. Legte man drüben im Palast dem Erzherzog bereits die Beweise für ihre Hinrichtung vor? Wann würden sie es Balthasar sagen … den Kindern ? Ein Schauer durchfuhr sie, und sie biss sich auf den Finger, bis sie Blut schmeckte.
Als Vladimer stehen blieb, wäre sie beinah in ihn hineingelaufen. Der unterirdische Gang führte noch weiter, doch Vladimer beugte sich über ein niedriges Gitter und nestelte einhändig an dessen Mechanismus herum. Sie ließ ihn machen, bis deutlich wurde, dass es ihm nicht gelingen wollte, und bot ihm dann schweigend ihre rechte Hand, um seiner linken zu Hilfe zu kommen. Zusammen öffneten sie das Gitter. Dahinter lag eine tiefe Stufe. Er hielt ihr seine Hand hin, um sie zu stützen, als sie hinunterglitt, und ließ sich von ihr helfen, als er folgte. Staunend peilte sie ihre Umgebung. Sie standen am Rand eines unterirdischen Kanals. Zu ihrer Rechten lag in einer Bucht ein gutes Dutzend flacher Boote wie jene, auf denen sie als Kind gespielt hatte, und schmiegten sich an den steinernen Anleger. Vladimer sagte: »Geben Sie mir den verfluchten Revolver. Sie werden beide Hände brauchen, und ich möchte nicht, dass er über Bord geht.«
Sie zögerte und gab ihm schließlich den Revolver. Tastend prüfte Vladimer ihn und steckte ihn in sein Holster. Er wies Telmaine an, das vorderste Boot loszumachen – »Sie haben zwei gesunde Hände« – , während er vorsichtig einstieg und sich an die Pinne setzte. Sobald die Leine los war, startete das Boot. Auf Vladimers gebelltes »Springen Sie!« warf sie die Leine hinein, raffte ihre Röcke zusammen und sprang, landete in der Hocke, hielt sich an den Dollborden fest. Das Boot schaukelte und beruhigte sich. Er sagte: »Gut. Nehmen Sie die Stake und helfen Sie mit, dass wir geradeaus fahren!«
Es hatte keinen Sinn anzuführen, dass sie seit Jahren nicht mehr Stechkahn gefahren war – und damals auch nur gelegentlich, geduldet von ihren Cousins. Sie kniete im Bug und stieß das Boot von den Wänden ab, verlor hin und wieder fast den Halt, doch Vladimer war an der Pinne geübt, und als die Strömung sie zu tragen begann, wurde ihr Kurs stetiger, und sie holte die Stake wieder ein.
»Kommen Sie nach hinten«, sagte er und glitt von der Bank, um sich auf den Boden zu setzen, ohne die Pinne loszulassen. »Der Kanal verläuft etwa eine Meile parallel zum Fluss, und es gibt offene Gitter, um den Wasserstand auszugleichen. Zu dieser Tageszeit fällt so viel Licht herein, dass es uns verbrennen wird.«
Tief gebückt stieg sie über die Bänke. »Segeltücher, unter der letzten Bank. Holen Sie zwei hervor und decken Sie uns zu.« Telmaine zerrte die schweren, gewachsten Tücher heraus und hatte alle Mühe, sie zu entfalten. Er ließ die Pinne nur solange los, wie er brauchte, um das Segeltuch zu greifen, dann wies er sie an, es über seinen Kopf zu ziehen. Ihr Herz raste, und auch sie verhüllte sich. Vladimer bewegte sich ächzend, weil die Bewegung ihm Schmerzen bereitete. »Sprechen Sie nicht. Man könnte uns hören. Und rühren Sie sich erst, wenn ich es sage.«
Unter dem schweren Stoff kauernd, atmete sie dieselbe Luft ein, die sie eben ausgeatmet hatte, und kämpfte mit der Panik. Vielleicht ging es ihm ebenso, denn er war es, der das Schweigen mit einem Rasseln brach. »Das erste Mal habe ich im Freien unter Segeltuch zugebracht, als Ishmael di Studier mich wie eine Kohlroulade verschnürt hatte, weil er nicht wusste, ob ich Freund oder Feind war.« Es handelte sich um eine Andeutung, die nach einer Geschichte verlangte, doch wenn Vladimer gehofft hatte, dass sie ihn fragen würde, so würde sie ihn enttäuschen. Wenigstens bot der Gedanke daran Ablenkung von ihrer Panik, und die Vorstellung von einem hilflosen und gefesselten Vladimer wirkte ausgesprochen tröstlich. In der
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