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Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren

Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren

Titel: Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
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ihr Augenmerk wieder auf die Straße, auf den kleinen Pulk von Männern und Frauen vor dem Haupttor zum Palast des Erzherzogs. Bisher war deren Geschrei nur Teil des allgemeinen Stadtlärms gewesen, doch der Schrei, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, war »Tür aufhalten!« gewesen. Mehrere Gestalten sahen zu ihr herüber. Einer deutete auf sie. Zwei, dann vier, dann viele rannten in ihre Richtung. Instinktiv reagierte sie wie eine Wachfrau, trat hinaus, zog die schwere Tür hinter sich zu, schob die kleine Durchreiche neben der Tür auf und hielt ihren linken Arm tief ins Dunkel, wo sie den Schlüssel fallen ließ.
    Der erste Mann, der sie erreichte, stieß sie beiseite und tastete kurz und vergeblich in der Durchreiche herum, bis der Schmerz der Dunkelheit ihn zurückweichen ließ und er einen bleichen, kraftlosen Arm herauszog. »Warum haben Sie das getan?«, schrie er sie an. Ein hübscher junger Mann, wenn seine weißgoldenen Locken auch grau vom Staub waren, seine schwarz geschminkten Augen gerötet und seine Haut übersät von blauen Flecken. Sein Aufzug – grellbunt unter Dreck und Blut – deutete darauf hin, dass es sich um einen Straßenkünstler handelte. Da erkannte sie in ihm den Narren einer Schauspieltruppe, deren Theater in der Nähe des Turmes stand. Die Darsteller probten oft spät und schliefen im Theater. »Sie hat den Schlüssel weggeworfen«, rief der Schauspieler seinem Publikum mit bebender Stimme zu. » Sie hat den Schlüssel weggeworfen!«
    Floria entfernte sich, ließ nicht zu, dass man sie umzingelte, während zwei der schwereren Männer, von denen einer so staubig und zerrissen wie der Schauspieler wirkte, die Tür abwechselnd mit Füßen und Schultern traktierten. »Wissen Sie denn nicht, was die getan haben?« Mit langem Arm deutete der Schauspieler auf die Turmruine.
    Florias Blick folgte der Geste, und erschrocken riss sie die Augen auf, als sähe sie es zum ersten Mal. »Der Turm? Was ist mit dem Turm passiert? «
    Man hielt sie an der Wand fest und bombardierte sie mit Beschreibungen von Explosionen in der Nacht, davon, dass Teile des Turms Dächer durchschlagen und Leben und Licht vernichtet hatten, von Überlebenden, die bis zum Morgengrauen unter Trümmern Schutz suchten, um dann mit blutigen Fingern nach den zermalmten Überresten ihrer Lieben zu graben. Sie spielte die Rolle des ahnungslosen Kuriers, der sich bei Sonnenuntergang gezwungen gesehen hatte, Zuflucht zu suchen, und eben erst in das Inferno hinausgetreten war. Sie stöhnte, weinte, warf heimliche Blicke über die Menge, um herauszufinden, ob sich vielleicht jemand fragte, warum ein Kurier bewaffnet war wie eine Palastwache. Segensreicherweise bedeckte die Weste ihre Tätowierung. Nachdem man nichts Verwerflicheres als ihre Ahnungslosigkeit feststellen konnte, begannen die Aggressivsten aus der Gruppe erneut, herumzuschreien und an der Tür zu rütteln. Die anderen waren zu sehr mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt, um Florias Geschichte in Frage zu stellen.
    Sie bat, man möge sie gehen lassen, um nach ihrer Schwester zu sehen, die in der Nähe wohnte, ganz nah beim Turm, und so entkam sie ihnen. Gleich hinter der nächsten Ecke fing sie an zu rennen.
    Es war eine Straße der Nachtgeborenen, ein höchst exklusives Viertel angesichts der Nähe zum erzherzoglichen Palast, hohe Häuser reihten sich in eleganten Bögen um gepflegte Gärten. Auch dort herrschte Entsetzen, stummes Entsetzen. Etwas Metallisches schimmerte auf einer Treppe, Asche verteilte sich über die Stufen: Reste eines Nachtgeborenen, verbrannt auf der Schwelle zum sicheren Schutz der Schatten. Asche lag vor dem offenen Tor zu einem Dienstboteneingang, während das Tor selbst sanft in der milden Brise schwang. Ihr Fuß streifte beinah das Ridikül einer Dame, das mitten auf den Bürgersteig gefallen war. Mit jedem Schritt schien sie die Geister der Verdammten aufzurühren, und sie konnte sich vorstellen, wie die Nachtgeborenen hilflos hinter ihren fensterlosen Mauern kauerten. Welchem Wahnsinn war derjenige verfallen, der all das ersonnen hatte?
    Abseits des erzherzoglichen Palastes waren selbst die Straßen der Lichtgeborenen so gut wie menschenleer. Es gab keine offenen Droschken. Eine Kutsche der Nachtgeborenen war gegen eine Umzäunung gestürzt. Die spitzen Stacheln hatten sich in die Seite gebohrt. Das Pferd lag tot in seinem Geschirr, in den Kopf geschossen – war es durchgegangen? Floria sah nicht in die Droschke und auch nicht allzu

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