Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
sie, war genau das der Plan – sie zu beunruhigen. Und früher oder später würde jemand Wert darauf legen, sie das wissen zu lassen.
Leicht gereizt beeilte sie sich, ihre Übungen abzuschließen, und nahm dann ein heißes Bad. Eine Nacht im Palast verbringen zu müssen, hatte auch seine guten Seiten, wie beispielsweise die luxuriösen sanitären Einrichtungen. Die riesige Badewanne und das gewaltige Waschbecken waren aus milchweißem Porzellan, angeschlagen und von altersbedingten Haarrissen überzogen. Ursprünglich waren sie verzaubert worden, um durch das breite Fenster Tageslicht aufzunehmen, doch im Zuge späterer Einsparungen war dieser aufwendige Zauber durch die mittlerweile üblichen magischen Lampen in verspiegelten Halterungen ersetzt worden. Gewohnheitsgemäß registrierte sie deren gesunde Farbe und Leuchtkraft. Eine Lampe, deren Sonnenlichtspeicher zur Neige ging, durchlief alle Farben des Sonnenuntergangs, bevor sie endgültig erlosch.
Es war zu früh, um die Fensterläden zu öffnen, die Morgendämmerung hatte noch nicht eingesetzt. Floria wandte den Blick von den Deckenlampen ab und sah in den Spiegel. Distanziert betrachtete sie sich: eine schlanke Frau, etwas größer als der Durchschnitt, sehnig, geschmeidig und mit Muskeln, die am rechten Arm und rechten Bein etwas stärker ausgebildet waren. Die feinen Fältchen um Mund und Augen waren nur aus der Nähe zu erkennen, und die Konturen von Brust und Po waren zwar im Laufe der Zeit ein wenig weicher geworden, jedoch nur sichtbar für jemanden, der früher ganz genau hingesehen hatte. Schulterlanges Haar, das kaum nachgedunkelt war und noch immer im Weißgold der Jugend strahlte – ein Lichtgeborener mit dieser Haarfarbe konnte sich glücklich schätzen. So sollte sie es jedenfalls sehen; schließlich hatte das Haar ihrer Mutter vor so vielen Jahren die Aufmerksamkeit ihres Vaters erregt. Diverse alte Narben zeichneten ihren Körper, weiß auf heller Haut, sowie das tätowierte Mandala in verblassten Gelb- und Brauntönen, das sich nahezu über ihren ganzen Oberbauch ausbreitete.
Sanft rieb Floria über das Mandala. Sie war nicht bei Bewusstsein gewesen, als ihr die Tätowierung in die Haut geritzt wurde, als die gegen Gift immunisierende Magie auf sie überging. Es war das Werk ihres Vaters gewesen; er hatte gewusst, dass sie anderenfalls nicht zugestimmt hätte, sein Erbe anzunehmen, das ihm bis dahin das Leben bewahrt und seine Stellung gesichert hatte. Innerhalb der Familie Weiße Hand konnte es immer nur eine Person geben, die so von Magie geschützt wurde.
Während der noch verbliebenen vier Jahre seines Lebens hatte sie seine Speisen und Getränke ebenfalls vorgekostet. Eines Tages ließ er jedoch jede Vorsicht fallen und starb. Obzwar sie wusste, dass ein anderer für das Gift auf dem Tisch verantwortlich gewesen war und ihr Vater ein Übriges getan hatte, da ihm sein Leben nichts mehr bedeutete, nachdem die Schwäche des Alters ganz von ihm Besitz ergriffen hatte, nahm sie dennoch Rache für seinen Tod.
Bei ihr waren die Spuren des Alters bisher minimal, und jedes Anzeichen für Schwäche fehlte vollkommen.
Für Frauen, dachte Floria, ging es jedoch ziemlich ungerecht zu: Ihr Vater war bei ihrer Zeugung zehn Jahre älter gewesen, als sie jetzt war, und wenn sie den magischen Schutz noch an ein eigenes Kind weitergeben wollte, dann musste sie sich mit der Empfängnis beeilen. Die Alternative wäre, es an einen Cousin oder eine Cousine weiterzugeben. Sie hatte allerdings an jedem ihrer jungen Anverwandten irgendetwas auszusetzen.
Sie entschied, dass sie darüber auch später noch nachdenken konnte – wenn auch nicht zum ersten Mal.
Stirnrunzelnd betrachtete sie ihre Schuhe, die offenbar auf Wanderschaft gewesen waren und nun quer übereinander dalagen, und zog sich dabei Unterwäsche, Hose, Bluse und Uniformrock an. Die Vorder- und Rückseite von Bluse und Gehrock waren lichtdurchlässig, die schmalen Einsätze an den Seiten durchsichtig. Bei den Ärmeln und der Hose wechselten sich Streifen von durchsichtigem Weiß mit lichtdurchlässigem Silber ab, um das Auge des Feindes zu verwirren. Lichtgeborene konnten allzu dunkle Schatten nicht ertragen. Schwarzes Segeltuch galt sogar als Mordinstrument, wobei ein potenzielles Opfer schon ausgesprochen nachlässig, drogenumnebelt oder sturzbetrunken sein musste, um mit einem Tuch überwältigt zu werden.
Während sie ihren Uniformrock seitlich zuknöpfte, drängte sich eine unangenehme
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