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Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga

Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga

Titel: Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cooper
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Schutz um Wills Körper.
    Will sah im dunklen Himmel, oder auch in seinem eigenen Geist, eine Gruppe hoher, kahler Bäume, winterlich, aber ohne Schnee, die eine kahle Hecke überragten. Er hörte eine seltsame dünne Musik, ein helles Pfeifen, das vom beständigen Pochen einer kleinen Trommel begleitet wurde und eine kurze, melancholische Tonfolge immer wiederholte. Und aus dem tiefen Dunkel kam ein Zug auf die gespenstische Baumgruppe zugeschritten.
    Es waren Knaben in den Kleidern einer längst vergangenen Zeit, in Kitteln und einer Art Gamaschen; das Haar fiel ihnen bis auf die Schultern und sie trugen beutelartige Mützen, wie Will sie noch nie gesehen hatte. Sie waren älter als Will, vielleicht fünfzehn. Sie hatten den halb ernsten Ausdruck von Spielern, die eine Scharade darstellen, ernsthafte Bemühung, gemischt mit prickelndem Vergnügen.
    Zuerst kamen Jungen mit Stöcken und Bündeln von Birkenreisern, hinten gingen die Trommler und Pfeifer. Dazwischen trugen sechs Jungen eine Art Bahre, die aus Schilf und Zweigen geflochten war, und an jeder Ecke steckte ein Strauß Stechpalmen. Will dachte, es sieht aus wie eine Krankenbahre; nur trugen die Jungen sie in Schulterhöhe. Er dachte zuerst, das wäre alles und die Bahre wäre leer; dann bemerkte er, dass etwas darauf lag. Etwas sehr Kleines.
    In der Mitte der Bahre lag auf einem Kissen aus Efeublättern ein winziger, toter Vogel: ein staubbrauner Vogel mit einem winzigen Schnäbelchen. Es war ein Zaunkönig.
    Merrimans Stimme kam aus der Dunkelheit über Wills Kopf: »Es ist die Jagd auf den Zaunkönig, die, solange sich Menschen erinnern können, jedes Jahr um die Wintersonnenwende stattfindet. Aber dies ist ein besonderes Jahr, und wenn alles gut geht, sehen wir noch mehr.«
    Und während die Jungen mit ihrer traurigen Musik sich durch die Bäume bewegten und doch nicht von der Stelle zu kommen schienen, blieb Will plötzlich der Atem stehen, denn an Stelle des kleinen Vogels wurden auf der Bahre die unbestimmten Umrisse einer anderen Gestalt sichtbar. Merrimans Hand umklammerte seine Schulter mit eisernem Griff, aber der große Mann gab keinen Laut von sich. Auf dem Bett aus Efeu lag zwischen Stechpalmensträußen nicht mehr ein winziger Vogel, sondern eine kleine, feingliedrige Frau, sehr alt, zart wie ein Vogel, in ein blaues Gewand gekleidet. Die Hände waren über der Brust gefaltet und an einem Finger schimmerte ein Ring mit einem riesigen rosenroten Stein. Im gleichen Augenblick sah Will das Gesicht, und er wusste, dass es die Alte Dame war.
    Voller Schmerz schrie er auf: »Aber Sie sagten doch, sie sei nicht tot!«
    »Das ist sie auch nicht«, sagte Merriman.
    Die Jungen marschierten im Takt der Musik, die Bahre mit der stillen Gestalt kam näher, zog vorbei und verschwand in der Dunkelheit und langsam verklangen auch die traurigen Töne und der Trommelschlag. Aber als man sie eben noch sehen konnte, blieben die drei Jungen, die gespielt hatten, stehen, ließen ihre Instrumente sinken und starrten Will ausdruckslos an.
    Einer von ihnen sagte: »Will Stanton, hüte dich vor dem Schnee!«
    Der Zweite sagte: »Die Alte Dame wird zurückkommen, aber die Finsternis erhebt sich.«
    Der Dritte sagte in einem schnellen Singsang etwas her, das Will erkannte, sobald er die ersten Worte gehört hatte:
Erhebt die Finsternis sich wieder, wehren sechs sie ab;
Drei aus dem Kreis und Drei von dem Pfad.

Holz, Bronze, Eisen; Wasser, Feuer, Stein;

Fünf kehren wieder und Einer geht allein.
    Aber der Junge war noch nicht zu Ende, er fuhr fort:
Eisen für das Wiegenfest, Bronze trägst du lang;
Holz aus Flammenbrand, Stein aus Gesang;
Feuer aus dem Kerzenring, Wasser aus dem Firn;

Sechs Zeichen bilden den Kreis und der Gral ist fern.
    Dann erhob sich ein starker Wind aus dem leeren Raum und in einem Schneegestöber waren die Jungen verschwunden, davon-geweht und auch Will fühlte, wie er rückwärts gewirbelt wurde, zurück auf dem schimmernden Pfad der Uralten. Der Schnee peitschte sein Gesicht, die Nacht stach ihm in die Augen. Aus der Dunkelheit hörte er Merrimans Stimme, die warnend, aber auch mit neuer Hoffnung und Kraft ihm zurief: »Die Gefahr steigt mit dem Schnee. Will — hüte dich vor dem Schnee.
Folge den Zeichen, hüte dich vor dem Schnee...«
    Und Will war wieder in seinem Zimmer, lag wieder in seinem Bett, fiel wieder in Schlaf, während ein Wort warnend in seinem Kopf nachklang wie das Läuten einer dunklen Glocke.
Hüte dich... hüte

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