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Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga

Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga

Titel: Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cooper
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das unter dem Kinn geknotet war, umrahmte dieses Gesicht. »Jane Drew, nicht wahr?«, sagte die Frau. Ihr komischer Akzent klang seltsam hart. »Du bist eine von denen, die den Gral gefunden haben.«
    Jane fuhr zusammen. Der Gedanke an den Gral verließ sie nie ganz, aber sie hatte ihn nie mit dieser seltsamen Zeremonie, die hier vollzogen wurde, in Verbindung gebracht. Aber die Frau erwähnte den Gral nicht mehr.
    »Pass gut auf, wie die
Greenwitch
gemacht wird«, sagte sie ganz beiläufig. Es klang wie ein Gruß.
    Der Himmel war jetzt fast dunkel, nur ein schwacher Nachglanz des Tageslichts lag über dem Horizont. Auf den beiden Landzungen brannten hell die Feuer. »Was machen sie mit den Zweigen?«, sagte Jane hastig, indem sie sich in der einsamen Dunkelheit an die Gesellschaft der Frau klammerte.
    »Haselruten für den Rahmen«, sagte die Frau. »Eberesche für den Kopf. Dann wird der Körper aus Weißdornzweigen und Weißdornblüten gemacht. Die Steine kommen hinein, damit sie sinkt. Und die, denen was im Weg steht oder die unfruchtbar sind oder die einen Wunsch haben, müssen die Hexe berühren, bevor sie an die Klippe gebracht wird.«
    »Oh«, sagte Jane.
    »Halte Ausschau nach der
Greenwitch«,
sagte die Frau noch einmal freundlich und ging davon. Dann wandte sie sich noch einmal um und sagte: »Wenn du willst, kannst du auch einen Wunsch tun. Ich werde dich rechtzeitig rufen.«
    Jane blieb verwirrt und beunruhigt zurück. Die Frauen arbeiteten jetzt noch eifriger und ohne Unterbrechung und begleiteten die Arbeit mit einem seltsamen, wortlosen, gesummten Lied. Die zylindrische Gestalt wurde immer deutlicher, immer dichter von Laub durchwoben. Dann wurden die Steine herbeigebracht und in die Form hineingefüllt. Nun begann der Kopf, Form anzunehmen: Es war ein riesiger, langer, eckiger Kopf ohne Gesichtszüge. Als das Gerüst fertig war, begannen die Frauen, es mit Grün auszufüllen und mit weißen Blüten zu bestecken. Jane konnte die schwere Süße des Weißdorns riechen. Irgendwie erinnerte der Duft sie an die See.
     
    Stunden vergingen. Manchmal schlummerte Jane ein, neben ihrem Stein zusammengerollt; wenn sie dann wach wurde, schien das Flechtwerk noch genauso auszusehen wie zuvor. Das Ausfüllen des geflochtenen Gestells mit Laub schien eine endlose Arbeit. Mrs Penhallow kam zweimal mit heißem Tee aus einer Thermosflasche. Sie sagte besorgt: »Also, wenn du meinst, dass du genug hast, Herzchen, dann sag's nur. Es ist ganz leicht, dich nach Hause zu bringen.«
    »Nein«, sagte Jane und richtete den Blick fest auf das große belaubte Standbild mit seinem Gefolge von eifrigen Arbeiterinnen. Sie mochte die
Greenwitch
nicht. Sie hatte Angst vor ihr. Es war etwas Bedrohliches an dieser breiten, vierschrötigen Figur. Und auch etwas Hypnotisches: Jane konnte kaum den Blick von dem Ding abwenden. Sie hatte immer geglaubt, Hexen wären weiblich, aber an der
Greenwitch
konnte sie nichts Weibliches entdecken. Sie war ohne Geschlecht, wie ein Fels oder ein Baum.
    Das Feuer brannte immer noch, das Holz wurde sorgfältig nachgelegt und die Wärme war in der kühlen Nacht sehr willkommen. Jane erhob sich, um sich die steifen Beine zu vertreten, und bemerkte, wie am Himmel über dem Festland ein leichtes Grau aufstieg. Bald würde der Morgen dämmern. Ein nebliger Morgen; schon jetzt spürte Jane, wie ihr feine Tröpfchen von Feuchtigkeit ins Gesicht geweht wurden. Jetzt erkannte sie auch die stehenden Steine von Trewissick, die sich gegen den heller werdenden Himmel abhoben, fünf Steinsäulen, uralte, himmelwärts weisende Finger mitten auf Kemare Head. Sie dachte: Die
Greenwitch
ist auch so etwas. Sie erinnert mich an die stehenden Steine.
    Als sie sich wieder der See zuwandte, war die
Greenwitch
fertig. Die Frauen hatten sich von der großen Figur zurückgezogen; sie saßen am Feuer, aßen Brote, lachten und tranken Tee. Als Jane das riesige Standbild betrachtete, das sie aus Zweigen und Laub verfertigt hatten, konnte sie die Leichtherzigkeit der Frauen nicht verstehen. Denn sie wusste plötzlich dort draußen in der kalten Dämmerung, dass dieses stumme Standbild irgendwie mehr Macht in sich barg, als sie je in irgendeinem Geschöpf oder irgendeinem Ding gespürt hatte. Gewitter und Stürme und Erdbeben waren darin enthalten und alle Kräfte der Erde und der See. Es war etwas außerhalb der Zeit, etwas ohne Grenzen und ohne Alter, etwas jenseits von Gut und Böse. Entsetzt starrte Jane das Standbild an und vom

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