Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
sie lief davon, und niemand weiß, warum. Ich habe sie nicht vertrieben.« Seine Stimme brach plötzlich. »Sie vertrieben! Jesus Christ, Junge, ich war wie von Sinnen, auf der Suche nach ihr, oben in den Bergen, auf der Suche und habe nichts gefunden, habe gerufen und nie eine Antwort bekommen. Und weit und breit kein Geräusch außer den Rufen der Vögel und dem Blöken der Schafe und das leere Jammern des Windes in meinen Ohren. Und der Brenin Llwyd hinter seinem Nebel über dem Cader und dem Llyn Mwyngil, dem Echo meiner Worte lauschend, in sich hineinlächelnd, weil ich nie erfahren würde, wohin sie gegangen ist ...«
Der Kummer in seiner Stimme war so deutlich und echt, dass Bran schwieg, unfähig, seinen Vater zu unterbrechen.
Owen Davies sah ihn an. Er sagte leise: »Ich denke, es ist an der Zeit, es dir zu sagen, da wir schon einmal angefangen haben. Ich musste warten, verstehst du, bis du alt genug warst, auch nur ein wenig zu verstehen. Ich bin dein Vater nach dem Gesetz, Bran, weil ich dich gleich am Anfang adoptiert habe. Ich habe dich bei mir gehabt, seit du ein Baby warst, und Gott weiß, dass ich mit Herz und Seele dein Vater bin. Aber du bist nicht deiner Mutter und mein Kind. Ich kann dir nicht sagen, wer dein wirklicher Vater war, weil sie nie ein Wort über ihn gesagt hat. Als sie aus den Bergen kam, aus dem Nichts, brachte sie dich mit. Sie ist drei Tage bei mir geblieben, dann ging sie für immer. Und nahm einen Teil von mir mit.« Seine Stimme bebte, dann wurde sie wieder fester. »Sie hat mir einen Zettel dagelassen.«
Er zog seine abgenutzte lederne Brieftasche aus der Tasche und entnahm einem Innenfach ein kleines Stück Papier. Er faltete es behutsam auseinander und reichte es Bran. Das Blatt war zerknittert und brüchig und in den Falten fast durchgescheuert. Es standen nur wenige, mit Bleistift geschriebene Worte darauf, in einer seltsam runden Schrift: Er
heißt Bran. Danke, Owen Davies.
Bran faltete den Zettel wieder zusammen, sehr langsam und vorsichtig, und reichte ihn zurück.
»Es war alles, was sie mir von sich selbst zurückgelassen hat, Bran«, sagte sein Vater. »Diesen Zettel — und dich.«
Bran fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Sein Kopf war voller im Widerspruch zueinander stehender Bilder und Fragen: eine Kreuzung mit einem Dutzend verschiedener Abzweigungen und keinem Wegweiser. Er dachte, wie er es schon tausendmal getan hatte, seit er alt genug war, an das Rätsel, das seine Mutter darstellte, ohne Gesicht, ohne Stimme, ihr Platz in seinem Leben nur eine schmerzliche Abwesenheit. Jetzt hatte sie ihm, über die Jahre hinweg, eine zweite Abwesenheit, eine zweite Leere gebracht: Es war, als versuche sie, ihm auch noch seinen Vater zu nehmen — jedenfalls den Vater, den er, trotz aller Meinungsverschiedenheiten, immer für seinen Vater gehalten hatte. Groll und Verwirrung stiegen und fielen in seinen Gedanken wie der Wind. Er dachte voller Zorn:
Wer bin ich?
Er musterte Pen und die Kate und den Wachstein des Brenin Llwyd. Er hörte wieder die bitteren Worte seines Vaters:
der Brenin Llwyd hinter seinem Nebel über dem Cader und dem Llyn Mwyngil ...
Die Namen hallten in seinem Kopf wider, und er verstand nicht, warum sie das taten. Llyn Mwyngil, Tal y Llyn ... das Dröhnen in seinem Kopf wuchs und es schien vom Wachstein auszugehen.
Er sah zum Stein hinüber. Und wieder, wie schon einmal, als Will noch da war, schien es in der Kate dunkel zu werden, und der blaue Funken glühte in der dämmerigen Ecke auf, und plötzlich wurde Bran sich auf seltsame, aufrüttelnde Weise eines Teils seines Empfindens bewusst, den er noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Es war, als ob sich irgendwo in ihm eine Tür öffnete und er nicht wusste, was er auf der anderen Seite finden würde. In rascher Folge drangen Bilder in sein Bewusstsein, die keinen Sinn ergaben, wie ein Traum, den man träumt, während man aufwacht.
Er glaubte, Nebel um den Berg wirbeln zu sehen, und in dem Nebel die hohe, in einen blauen Umhang gehüllte Gestalt des hohen Herrn, den Will Merriman nannte, die Kapuze über den gesenkten Kopf gezogen und mit dem ausgestreckten Arm hinunter in ein Tal auf eine Kate zeigend — die Kate, in der Bran jetzt stand. Für einen kurzen Augenblick sah Bran eine Frau mit schwarzem, wehendem Haar, und er fühlte sich überflutet von Liebe und Zärtlichkeit, sodass er vor Sehnsucht fast aufschrie, um das Gefühl festzuhalten. Aber dann war es verschwunden, und der Nebel
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