Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
»Ach, der Wind wird schon noch aufkommen, ihr werdet sehn.«
»So?«, sagte Simon. Sein Gesicht war ganz ausdruckslos, aber in seinem Ton lag eine ganz leise spöttische Ungläubigkeit. Zum ersten Mal verlor Miss Withers' Lächeln ein wenig an Glanz.
Bevor sie etwas sagen konnte, sprach der Junge, der bei ihr war. »Miss Withers hat immer Recht mit der See«, sagte er schroff und funkelte Simon an. »Sie weiß mehr darüber als all die alten Männer da unten zusammen.« Er wies mit dem Kinn verächtlich zum Hafen hinunter.
»Oh — ich habe euch nicht bekannt gemacht«, sagte Miss Withers strahlend. »Verzeiht mir. Jane, Simon, Barnabas, dies ist Bill, unsere rechte Hand. Ohne ihn läuft auf der
Lady Mary
nichts.«
Der Junge wurde dunkelrot, warf ihr einen schnellen Blick zu und schaute dann auf seine dreckigen Turnschuhe hinunter. Jane dachte mitleidig: Er bewundert sie restlos.
»Wir sind uns schon mal begegnet«, sagte Simon kurz. Barney sagte: »Was macht denn das Fahrrad?«
»Dass du fragst, macht's auch nicht besser«, knurrte der Junge.
»Benimm dich, Bill — « Trotz des süßen Lächelns war Miss Withers' Stimme kalt und gespannt wie ein Drahtseil. »In diesem Ton sprechen wir nicht mit unseren Freunden.«
Bill sah sie mit dumpfem Vorwurf an, wandte sich dann mit einem Ruck ab und ging ohne ein weiteres Wort den Pfad hinauf.
»Du meine Güte.« Miss Withers seufzte. »Jetzt habe ich ihn verletzt. Diese Dorfleute sind so empfindlich.« Sie schnitt ihnen eine lustige Grimasse, als betrachtete sie sie als Mitverschworene. »Ich glaube, ich gehe ihm besser nach.« Sie wandte sich ab, um dem Jungen zu folgen, drehte sich dann aber plötzlich wieder um. Ihre Worte schlugen wie ein Blitz ein: »Habt ihr eine Karte gefunden?«
Die Kinder starrten sie an. Dieser Augenblick dröhnender Stille kam ihnen wie eine Stunde vor. Dann rettete sich Barney, von nackter Angst getrieben, in ein unsinniges Geschwätz. »Sagten Sie Karten, Miss Withers? Oder meinten Sie Garten? Wir waren im Garten und haben in der Hecke eine Lücke entdeckt, durch die wir hier heraufgekommen sind. Aber eine Karte haben wir nicht. Wenigstens ich nicht. Simon und Jane müssen Sie selbst fragen ... Wissen Sie den Weg auf den Berg hinauf nicht?«
Miss Withers sah die Kinder starr an, entspannte sich dann aber wieder und war die Freundlichkeit selbst. »Ja, das meinte ich, Barnabas, eine Wegkarte ... Ich finde mich hier in der Gegend tatsächlich nicht gut zurecht. Und ich konnte heute Morgen in keinem der Läden eine Wegkarte finden. Es gibt einen kleinen Fußpfad, den ich suche, er muss auf der anderen Seite entlangführen, und Bill ist da auch keine große Hilfe.«
»Ich glaube, Großonkel Merry hat eine Wegkarte«, sagte Jane mit ausdrucksloser Stimme. Sie beobachtete Miss Withers scharf aus dem Augenwinkel, aber in deren Gesicht regte sich kein Muskel. »Sie haben unseren Großonkel noch nicht kennen gelernt, nicht wahr, Miss Withers? Er ist heute mit Vater zum Fischen gefahren. Wie schade. Es tut mir schrecklich Leid, dass wir Ihnen nicht helfen können.«
»Hoffentlich finden Sie Ihren Weg«, sagte Simon freundlich.
»Nun, ich denke schon.« Miss Withers warf ihnen ihr strahlendstes Lächeln zu, dann wandte sie sich den Pfad hinauf und hob die Hand. »Auf Wiedersehn, alle zusammen.«
Sie sahen ihr schweigend nach, bis sie über die Linie hinweg verschwunden war, die der Himmel mit dem grünen Abhang bil dete. Dann ließ Barney sich mit dem Gesicht nach unten zu Boden fallen, rollte um und um und ließ dabei ein langes, erleichtertes Stöhnen hören. »Huuuuh! Wie schrecklich! Als sie plötzlich sagte ...« Er vergrub sein Gesicht im Gras.
»Glaubt ihr, dass sie was gemerkt hat?«, fragte Jane ängstlich. »Haben wir uns verraten?«
»Ich weiß nicht.« Simon blickte nachdenklich den stillen grünen Abhang hinauf. Es war jetzt keine Spur mehr von Miss Withers oder sonst jemandem zu sehen. Man sah nur in der Ferne ein paar Schafe grasen. »Ich glaube nicht. Das heißt, wir müssen alle ziemlich blöd ausgesehen haben, als sie nach der Karte fragte. Du jedenfalls sahst blöd aus.«
»Du auch. Wie ein Fisch.«
»Na gut... ich finde, es war ganz natürlich, dass wir überrascht aussahen, wo ihre Frage so aus heiterem Himmel kam. Ich glaube nicht, dass sie feststellen konnte, ob wir schuldbewusst aussahen oder einfach überrascht.« Während er sprach, wurde er immer zuversichtlicher. »Sie glaubt, dass wir wirklich meinten, sie
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