Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
humorvolle große Mund, den die Furchen der Erfahrung von der Nase zum Mund fast traurig erscheinen ließen, die strahlenden, lächelnden Augen, das dichte, gekräuselte graue Haar, der seltsam dunkle Streifen in dem grauen Bart. In Gedanken sagte er zu Gwion:
Ich hab dich gern.
»Kommt«, sagte Gwion. Mit der Harfe unter dem Arm ging er zu einem Abschnitt in der gekrümmten Wand, der sich von der übrigen Wand nicht zu unterscheiden schien, griff nach oben und schob mit einem kräftigen Ruck ein ganzes keilförmiges Stück zur Seite. Die entstandene Öffnung klaffte wie eine dreieckige Tür. Draußen sahen sie den Himmel, ein düsteres, düsteres Grau.
Gwion trat hinaus auf einen Balkon. Will folgte ihm und sah ein goldenes Geländer. Ihm wurde klar, dass auch der Balkon übereinstimmte mit dem, der um die Kuppel des Leeren Palastes in der Stadt führte. Aber als er von dem Turm einen Blick in die Ferne wandte, schwanden alle Überlegungen dahin.
Im Westen, über dem Meer, türmte sich eine riesige, dunkle Wolkenbank zusammen, massig, berghoch, gelbgrau. Sie schien sich zu winden, zu wachsen und anzuschwellen wie etwas Lebendiges. Wills Finger klammerten sich um den Halteriemen des goldenen Schildes, den er noch immer trug. Bran trat hinter ihm auf den Balkon und als Letzter kam der König: Gebrechlich stützte er sich an der einen Seite der Öffnung im Dach ab. Er atmete plötzlich schneller, als ob die frischere Luft draußen etwas war, was seine Lunge seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte.
Das leise, ferne Grollen hing immer noch in der Luft, kam zu ihnen wie ein Nebel vom westlichen Horizont, wo die großen Wolken sich dahinwälzten. Aber es war nicht das Grollen von Donner; das Geräusch war tiefer, beharrlicher, mit nichts zu vergleichen, was Will je gehört hatte.
»Seid bereit«, sagte Gwion hinter ihm leise.
Will drehte sich um und sah direkt in die von Lachfalten umgebenen, dunklen Augen. Er sah ruhige Entschlossenheit in ihnen und Selbstbeherrschung, aber unter allem anderen ein Aufflackern von schrecklicher, nackter Angst.
»Was ist das?«, flüsterte Will.
Gwion nahm seine Harfe und entlockte ihren Saiten eine Reihe leiser, wunderschöner Arpeggios. Leichthin, als sei es eine beiläufige, witzige Bemerkung, und mit Blicken, die Will anflehten, das Entsetzen in seinen Augen zu ignorieren, sagte er: »Es ist der Untergang des Verlorenen Landes, Uralter. Es muss kommen, wenn die Zeit kommt.« Seine Finger fügten die Töne zu einer sanften Melodie zusammen, und der König, an die schimmernde Wand der Kuppel gelehnt, murmelte erfreut vor sich hin.
Das Grollen vom Westen stieg an. Ein Wind kam auf, blies ihnen in die Gesichter und zerzauste ihr Haar: ein merkwürdig warmer Wind. Will hob den Kopf und schnupperte; auf einmal schien die Sommerluft voller Meeresgerüche, es roch nach Salz und nassem Sand und grünen Wasserpflanzen. Das Licht schwand langsam, die Wolke breitete sich grau über dem Himmel aus. Er hörte ein leises Geräusch, wie Quietschen, über sich und blickte scharf nach oben. Auf der Spitze der Kuppel drehte der goldene Pfeil, auch in dem trüben Licht noch glitzernd, sich langsam um die eigene Achse, drehte sich immer weiter, bis er ins Binnenland zeigte, fort vom Meer. Eine Helligkeit am Himmel, jenseits des Pfeiles, fiel Will ins Auge, und ihm stockte der Atem. Er sah, dass auch Bran dorthin starrte.
Weit weg, an der anderen Seite des Verlorenen Landes, erhoben sich über den noch undeutlich sichtbaren Dächern der Stadt plötzlich Lichtbündel wie Springbrunnen, flammten sekundenlang hell auf und verschwanden wieder. Wie auseinander berstende Sterne leuchtete Feuerwerk auf und setzte strahlend rote, grüne, gelbe und blaue Flecke auf den dunklen Himmel, explodierte in fröhlichen Lichtbögen über der Stadt. In dem ganzen, plötzlichen Glanz herrschte eine wundervolle, furchtlose Heiterkeit, als würfen Kinder lodernde Äste aus einem Feuer in eine dunkle, wilde Nacht hinaus. Will merkte, dass er lächelte und doch den Tränen nahe war, und im gleichen Augenblick hörte er das hohe, freudige Läuten vieler Glocken, das leise Dröhnen, das von Westen her jetzt die Welt erfüllte, schwach übertönend, irgendwo dort draußen, irgendwo in der Stadt. Gwion veränderte behutsam Tonlage und Rhythmus seiner Melodie, sodass seine Harfe in das Läuten der Glocken einstimmte, und Will atmete schnell, während er vom Balkon aus hinausblickte auf den fahlen, drohenden Himmel, das
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