Lichtjagd
hatte bereits auf seinen Sabbathrhythmus umgeschaltet. Er fuhr in festgelegten Intervallen von einem Stockwerk zum anderen und hielt jeweils lang
genug, dass auch der langsamste Orthodoxe einsteigen konnte, ohne den Sabbath zu verletzen, indem er ein mechanisches Gerät bediente.
Als Li eintraf, signalisierte die Geschossanzeige, dass die Aufzugkabine sich im sechsten Stock befand. Nachdem sie sich fast anderthalb Minuten nicht gerührt hatte, hatte Li keine Lust mehr zu warten, entdeckte das Treppenhaus hinter einer Tür, die so aussah, als gehörte sie zur Besenkammer, und stieg fünf Stockwerke hinauf. Sie nahm erfreut zur Kenntnis, dass sie nicht außer Atem geriet, aber unter dem soliden Zug ihrer Verkabelung konnte sie spüren, wie ihre schon recht betagten Gelenke unter der unerbittlichen Einwirkung der irdischen Schwerkraft knirschten.
»Was?«, fragte sie, noch bevor Ash die Tür auf ihr ungeduldiges Klopfen hin ganz geöffnet hatte. »Was ist so privat und wichtig, dass Sie mich durch die halbe Stadt scheuchen, um es mir zu sagen?«
»Sag hallo zu Tante Li«, säuselte Ash.
Das Kind an ihrer Hüfte sah wenig älter als ein Jahr aus. Li war sich nicht ganz sicher, vermutete aber, dass es ein Junge war; sie hatte in ihrem Leben nicht viele Säuglinge gesehen, und diejenigen, die ihr unter die Augen gekommen waren, hatten kaum ihr Interesse geweckt.
»Ihrer?«, fragte sie.
Ash lächelte und zuckte leicht mit den Schultern, was so wirkte, als habe sie diese Geste mehr als einmal vor einem Spiegel geübt.
Li folgte Mutter und Kind in ein Wohnzimmer, in dem genau die Art von glatten, abweisenden Glas- und Stahloberflächen dominierten, die Li in Ashs Wohnung erwartet hatte. Das blanke Weiß und Chrom der Einrichtung bildete einen unpassenden Hintergrund für die Spur aus buntem Plüsch-und Plastikspielzeug, die über den Teppich bis in die geflieste Küche hinter der Speisenische und über jede glatte Oberfläche führte, die das Mobiliar freiließ.
»Entschuldigung.« Ash zog ein schiefes Gesicht. »Im Moment komme ich einfach nicht hinterher.«
Das Kind immer noch an der Hüfte, bückte sie sich, um einen rot und violett gemusterten Schaumstoffwürfel von dem einzigen einigermaßen freien Stuhl aufzuheben, damit Li sich setzen konnte. Dabei rutschte ihr Hemd hoch, und Li sah die leicht silbrigen Fischschwänze von Dehnungsstreifen, die sich wie Kerben auf einem Gewehrlauf ihre Hüften hochzogen.
»Also, warum bin ich hier?«, fragte Li.
Statt zu antworten, hockte sich Ash zwischen das Kunstledersofa und einen zerbrechlich wirkenden, gläsernen Kaffeetisch und setzte das Kind vorsichtig auf ein Strandtuch, das sie bereits zu diesem Zweck ausgebreitet hatte. Das dauerte einige Minuten und wurde von Geräuschen begleitet, die Li zuletzt bei Cohens italienischen Windhundwelpen gehört hatte.
Schließlich aber konnte Ash ihre Antwort nicht mehr länger hinauszögern und setzte sich Li gegenüber aufs Sofa. »Ich habe für Sie eine Nachricht von einem alten Freund.«
Oh, Scheiße.
Ash lächelte.
Li nicht.
Stille trat ein.
Li, die sich lang vor ihrer ersten Verhörschulung oberflächliche Nettigkeiten abgewöhnt hatte, beließ es dabei.
Die Pause verschaffte ihr immerhin eine Gelegenheit, sich noch mal einen Eindruck von der außerordentlich widersprüchlichen Frau zu machen, die ihr gegenübersaß. Verschwunden waren die hohen Absätze und die technisch aufwendigen Du-siehst-mich/Du-siehst-mich-nicht-Anzüge. Ash war immer noch sorgfältig geschminkt – und Li konnte Frauen, die Make-up trugen, nie ganz vertrauen –, aber sie trug Jeans, ein T-Shirt und dicke Wollsocken, und ihr langes Haar war zu einem wüsten Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie war viel schöner so, fand Li. Jedenfalls wirkte sie nicht
mehr so unnahbar. Aber sie hatte etwas Aalglattes an sich, eine harte, unnatürliche Selbstsicherheit, die jeden Versuch vereitelte, die Person unter der schönen Verpackung einzuschätzen.
Aber im Grunde gab es da nichts zu entdecken. Wenn man von dem Kleinkind und den Dehnungsstreifen einmal absah. Vor den »inneren Werten«, die sie auszeichneten, konnte jede normale Person nur in Deckung gehen.
»Sie haben mich nicht gefragt, wer der alte Freund ist«, sagte Ash. »Liegt das daran, dass Sie es schon wissen oder dass Sie es nicht wissen wollen?«
»Helen Nguyen und ich kannten uns schon, bevor Sie Ihren ersten Jungen geküsst haben. Oder Ihr erstes Mädchen. Oder was immer. Wir sind keine
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