Lichtjagd
warte erst mal ab, was sie will. Und dann kann ich’s ihm erzählen. Was könnte das schon schaden?
Sie stieg behutsam aus dem Bett, obwohl sie wusste, dass ihre Vorsicht unnötig war. Roland schlief wie tot, sein Körper ausgezehrt von der unaufhörlichen Belagerung durch Cohens Gegenwart. Wenn Cohen seine Interfaces stark beanspruchte, hatten ihre Gesichter immer noch etwas Leichenhaftes. Und Roland hatte auf dieser Reise einiges zu erdulden.
Die Stadt draußen war schäbig und gelb vom Khamsin -Staub. Cohen behauptete, dass die Winde mit der Verschiebung der Jahreszeiten stärker geworden waren. Li vermutete,
dass er recht hatte; kein Volk, das ganz bei Sinnen war, hätte sich hier angesiedelt, wenn ihr immer schon diese Todesfee ins Gesicht geblasen hätte.
In einem leichten Trab erreichte sie binnen weniger Minuten die König-David-Straße, die sie überquerte, um in ein Viertel zu gelangen, das auf der Legionskarte als Mea Schearim eingetragen war. Am Eingang in das Viertel kam sie an einem Schild vorbei, das ihr noch vage in Erinnerung war, weil Cohen sie vor einigen Tagen darauf aufmerksam gemacht hatte. Es war in Englisch und Hebräisch beschriftet, aber nicht in UN-Standardspanisch, was ihr, wenn es wirklich für Touristen bestimmt war, doch etwas seltsam vorkam:
BITTE UND WARNUNG
AN FRAUEN, DIE UNSER VIERTEL BESUCHEN:
TRAGEN SIE KEINE KURZE KLEIDUNG
(DAS KNIE MUSS IMMER BEDECKT BLEIBEN).
TRAGEN SIE KEINE KURZÄRMELIGE KLEIDUNG
(DIE ARME MÜSSEN IMMER BEDECKT BLEIBEN).
DIE THORA SCHREIBT ZÜCHTIGE KLEIDUNG VOR,
DIE DEN GANZEN KÖRPER BEDECKT.
Die Bewohner des Viertels
Kein Problem für mich , lachte Li innerlich. Die Angeklagte bekennt sich schuldig, ein Golem und keine Frau zu sein.
Cohen behauptete, dass die ultraorthodoxen Viertel sich verschoben hatten – das verborgene Leben der Städte, wie er es nannte – und dass das Schild mehr aus historischen denn aus Gründen der Ermahnung erhalten geblieben war. Aber es war furchtbar schlecht instand gehalten, dachte Li. Und sie hatte im Ring genug Beispiele dafür gesehen, wie eine bestimmte Version der menschlichen Geschichte gepflegt wurde, um zu wissen, dass man nur die Spuren der Geschichte pflegte, mit denen man sich identifizierte.
Sie knöpfte die Manschetten ihres Hemdes zu – Cohen hatte in einem seiner typischen Anfälle von altjüngferlicher Vorsicht darauf bestanden, dass sie einen neuen Satz besonders langärmeliger Hemden bestellte, bevor sie abreisten – und vergewisserte sich, dass ihr Jackenkragen den Hals ausreichend bedeckte. Dann streckte sie den Rücken durch und marschierte in einer etwas soldatischeren Haltung weiter … nur für den Fall, dass jemand in diesen schmalen kleinen Gassen in ihre Richtung schaute und auf dumme Ideen kam.
Sie hatte das Gefühl, dass sie ein neues Jerusalem sah – nicht die Stadt, von der sie als kleines Mädchen in der Kirche gesungen hatte.
Bisher war Jerusalem ihr immer durch Cohen vermittelt worden. Jetzt aber, da sie hier allein unterwegs war, nahm die Stadt eine neue und leicht bedrohliche Note an. Die schmalen Straßen wirkten luftleer und klaustrophobisch. Die Männer gingen mit abgewandtem Blick an ihr vorbei, als sei sie entstellt, und die wenigen Frauen auf der Straße waren gegen den Regen und die Kälte so dick eingepackt, dass sie kaum wie Menschen, geschweige denn wie Frauen wirkten.
Alle Gespräche, die sie belauschte, schienen Streitereien zu sein, und der einzige englische Satz, den sie aufschnappte, kam von einer zornigen jungen Frau, die in einem Fenster auf Straßenhöhe stand und rief: »Bin ich vielleicht ein Professor? « – als Antwort auf einen ungesehenen Fragesteller.
Selbst die Schmierereien an den Wänden zeugten von einem apokalyptischen Zorn. Ein grelles Plakat informierte alle Passanten:
Es ist verboten,
an den miesen Wahlen teilzunehmen
Darunter ein paar Hakenkreuze, damit keinem entging, was der Sinn der Übung war. Ein zweites Plaket erklärte:
Tod den zionistischen Hitleristen
Irgendjemand (ein zionistischer Hitlerist? So etwas konnte es doch eigentlich gar nicht geben, nicht einmal auf der Erde, oder?) hatte das Plakat herunterzureißen versucht, war aber offenbar an der Überlegenheit der anti-zionistisch-hitleristischen Leimtechnologie gescheitert und hatte seinem Missfallen mit Worten Ausdruck verliehen:
BARUCH DER APOSTAT
MÖGE SEIN NAME UND SEIN GEDÄCHTNIS
AUS DEM BUCH DES LEBENS GESTRICHEN WERDEN!
Je mehr Li von Jerusalem sah, um so
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