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Lichtjagd

Lichtjagd

Titel: Lichtjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Gilead stationiert worden war. Und wenn es darum ging, wer genau was gesagt hatte, schlug ein maschinelles Gedächtnis jedes organische Gedächtnis um Längen.
    »Und was sollen wir tun, wenn wir kein Bataillon anfordern können? Sie mitnehmen? Das wäre so, als müssten wir auf ein Rudel junger Hunde aufpassen. Und wir sind nur zu acht.«
    »Sieben. Pradesh hat es nicht bis auf den Hügel geschafft.«
    Eine lange Pause trat ein. Pradesh war sehr beliebt gewesen.
    »Hat der Sani-Techniker ihn sich angesehen?«
    »Der Sani-Techniker hat’s auch nicht geschafft.«
    Welche Aufzeichnung stammte von Li? Die des Hauptmanns? Des Scharfschützen? Hatte sie an jenem Morgen die Befehle gegeben oder hatte sie nur Befehlen gehorcht? Wenn eine Antwort je möglich gewesen war, dann hatte die Pressemeute, die der UNSR für ihr Verfahren vor dem Militärgericht aufgeboten hatte, ihre immer dekohärenteren Erinnerungen hoffnungslos durcheinandergebracht.
    Vielleicht war sie nur der Scharfschütze gewesen, sagte sie sich zum ungefähr achttausendsten Mal. Sie war als Scharfschütze auf Gilead abgesetzt worden. Man zog am besten dann in den Krieg, wenn man die Fähigkeiten und die Nerven für diesen Job hatte. Man saß über dem Gemetzel,
so weit weg, dass man es nicht einmal riechen konnte, wenn man Glück hatte. Man machte seine Atemübungen, und man hielt seinen Abzugfinger warm, und man schwebte in einer kühlen, blauen, von Displayanzeigen durchleuchteten Welt hinter der blendfreien Schutzbrille. Und wenn man wirklich einen Schlag weg hatte, konnte man sich sogar über längere Zeiträume hinweg einreden, dass man nur eine schwarzkopierte Beta-Version eines spitzenmäßigen Videospiels spielte.
    Solang einen das Töten nicht störte.
    Und solang einem die Tatsache, dass das Töten einen nicht störte, nicht mit der Zeit zu schaffen machte.
    Wieder wurde der Schofar geblasen. Li fuhr zusammen, als habe jemand den Luftalarm ausgelöst.
    »Sie werden verstehen«, sagte Ash, »dass dieses Angebot hinfällig ist, wenn Sie Cohen davon erzählen.«
    »Das dachte ich mir schon.«
    Li wusste, was als Nächstes geschehen sollte. Gott, für die nächste Szene hätte sie eigenhändig das Skript schreiben können. Sie sollte protestieren, dass sie Cohen nicht belügen konnte. Ash sollte ihr Rechtfertigungen, Vorwände und am Ende Geld anbieten. Li sollte erwidern, dass Geld keine Rolle spielte, dass es ums Prinzip ging. Dann sollte Ash sie bitten, noch einmal darüber nachzudenken, nur nachzudenken. Woraufhin Li sich einverstanden erklären würde. Widerwillig. Weil sie sich inzwischen natürlich weitgehend sicher war, dass sie ablehnen würde …
    Alles heuchlerischer Unsinn, wenn beide wussten, dass jeder am Ende den Sprung in den Abgrund wagen würde.
    Und das Geld nahm.
    Es war erstaunlich, dass niemand, wirklich niemand jemals das Geld ablehnte.
    »Schön«, sagte Li. »Wie viel Zeit habe ich, um mir das Angebot durch den Kopf gehen zu lassen?«
    »So viel Sie wollen«, sagte Ash.

    Sie sprach die Lüge mit einer so süßen Stimme aus, dass man sie fast glauben konnte.
     
    Als Li auf die feuchte Straße hinaustrat, stieß sie fast mit einem alten Mann zusammen, der nach Hause oder zur Synagoge oder wohin auch immer eilte, wo normale Menschen sich in der letzten Nacht des Jahres in Jerusalem hinbegaben.
    »Mögen Sie ins Buch des Lebens eingetragen werden«, sagte er, verbeugte sich und berührte mit einer vertrockneten Hand seine Hutkrempe.
    Sie begriff, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte; die Lobby hinter ihr war zu hell, die Straße zu dunkel; und der feine Nieselregen streute die elektrische Beleuchtung zu einem diesigen Halo um ihren Kopf und ihre Schulter.
    Sie erwiderte die Geste und drehte ihr Handgelenk instinktiv so, dass er die feine, geschützbronzegraue Maserung ihrer Verkabelung nicht erkennen konnte.
    »Mögen Sie ins Buch des Lebens eingetragen werden«, wiederholte sie benommen.

Die menschliche Verwendung des Menschen
    ► Ich habe von Maschinen gesprochen, aber nicht nur von Maschinen mit Blechgehirnen und Muskeln aus Eisen. Wenn menschliche Atome zu einer Organisationsform verknüpft werden, die sie benutzt, nicht mit ihren vollen Rechten als verantwortliche menschliche Wesen, sondern als Zahnräder, Hebel und Stangen, ist es von geringer Bedeutung, dass ihr Rohmaterial aus Fleisch und Blut besteht. Was als ein Element in einer Maschine benutzt wird, ist nichts anderes als ein Element in einer Maschine. Ob wir

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