Lichtjagd
Und um ehrlich zu sein: Was kann die Menschheit dem entgegenstellen? Chaos. Flackerndes, brünstiges, egoistisches, maladpatives …«
»Hui, Arkady!«, unterbrach Osnat. Im ersten Moment dachte er, sie sei wütend, dann merkte er aber, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht zu lachen. »Ich glaube, wir werden uns darauf einigen müssen, dass wir uns in dieser Frage nicht einig sind.«
»Komm schon, Arkady. Ich habe die Genehmigung, mit dir ein bisschen spazieren zu gehen. Ich habe Mosche gesagt,
dass du an Vitamin-D-Mangel sterben wirst, wenn er dich nicht an die Sonne lässt.«
Arkady, der für ein Überleben im Weltraum konstruiert war, konnte sein Vitamin D ohne weiteres selbst produzieren; angesichts von Osnats eigentümlich menschlicher Zimperlichkeit gegenüber Genmanipulationen kam er aber zu dem Schluss, dass ein unnötiger Spaziergang ihm wahrscheinlich weniger schaden würde als ein weiterer Streit mit dem zurzeit einzigen empfindungsfähigen Wesen, das überhaupt mit ihm redete.
Wie sich herausstellte, hatte er sich auf mehr als einen »kleinen Spaziergang« eingelassen.
Arkady hatte sich bisher immer gern auf Planeten aufgehalten – eine denkwürdige, wenn auch sehr gewöhnungsbedürftige Ablenkung von der Platzangst, die sich unter den jüngeren Jahrgängen der meisten Syndikatsbrutstationen immer weiter verbreitete. Aber das tiefe, dichte Unterholz der gemäßigten Zonen von Gilead und Novalis hatte ihn nicht annähernd auf diese Umgebung vorbereitet,
Zunächst einmal erstaunte ihn die Kälte. Natürlich hatte er von der Eiszeit gewusst; aber irgendwie hatte er sich vorgestellt, dass eine Wüste trotzdem heiß sein würde. Er hatte jedenfalls nicht mit Schneestaub gerechnet, der seine Füße frieren ließ und sich ins Profil seiner Stiefelsohlen drückte.
Er hatte auch nicht damit gerechnet, dass die Landschaft bewohnt sein würde. Wie sich herausstellte, war auf der Erde nichts mehr unberührt. Was auf Gilead oder den anderen neuen und noch leeren Planeten, auf denen er gearbeitet hatte, selbstverständlich gewesen war, lag selbst an einem so entlegenen Ort wie diesem lang zurück. Alle paar Schritte stolperten sie über Hinterlassenschaften der früheren Bewohner dieser Wüste. Ausrangierte Autos. Rostende Wassertanks. Stacheldrahtrollen, die immer noch zwischen den zurückgebliebenen Pfosten der alten Zäune lagen. Ein ganzer Apartmentkomplex, aus Betonstahl gebaut und mit weißem
Stuck verkleidet, so plötzlich aufgegeben, dass aus den Fenstern immer noch verblasste Vorhänge hingen wie Fahnen, die einen nie errungenen Sieg feiern sollten.
»Waren das israelische oder palästinensische Siedlungen?«, fragte Arkady.
»Sie könnten beides sein. Es wurden so oft die Seiten gewechselt, dass Siedlungen immer auf der falschen Seite gelandet sind.«
»Und niemand zieht ein, obwohl die ursprünglichen Siedler verschwunden sind?«
Osnat zuckte die Achseln. »Israelis wollen nicht in arabischen Häusern wohnen. Palästinenser wollen nicht in jüdischen Häusern leben. Und außerdem ist es billiger, neue Häuser zu bauen.«
»Bei Menschen geht es letztlich immer ums Geld, was?«
Osnat lachte bitter. »Wenn’s nur das wäre! Geld ist eine nette, saubere und einfache Sache verglichen mit dem, was hier unten sonst vorgeht.«
Nur einmal sahen sie zwischen den Trümmern eine Spur eines aktuellen menschlichen Gewerbes: eine riesige, verstaubte Schafherde, die wie eine Springflut auf dem Grund eines Wadis herumwirbelte. Für Arkady, aufgewachsen auf einer Orbitalstation, war der Anblick unbegreiflich. Wie viel Biomasse verbrauchten diese Geschöpfe? Welche Art von organischer Belastung fügten sie dem Ökosystem zu, das ihr Überleben ermöglichte? Welche Riesenmenge an Wasser verbrauchten sie jeden Tag? Wie viele angehäufte Tonnen von Gras, Insekten und Ringelwürmern waren erforderlich, um auch nur die Extravaganz eines einzelnen Schafs zu ermöglichen? Und wofür? Ein Stück Wolle? Ein bisschen Fleisch, das in den primitivsten Virumanufakturtanks schneller und billiger produziert werden konnte? Wenn er an all die Verschwendung dachte, sehnte er sich nach der eleganten Ökonomie eines Wurms.
Er hatte längst aufgehört sich zu fragen, welchen Sinn der Marsch hatte, zu dem Osnat ihn nötigte, als sie die steile
Flanke eines Tafelbergs hinaufstiegen und in ein flaches Tal hinausschauten, in dem – jedenfalls sah es auf den ersten Blick so auf – eine entlegene Wüstenstadt lag.
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