Lichtjagd
Natürlich war sie unbewohnt. Als sie von der Anhöhe herunterstiegen und die einzige stille Straße betraten, dämmerte Arkady allerdings, dass dies nie eine richtige Stadt gewesen war. Die Gebäude waren aus weiß getünchten Zementblöcken gebaut, und ihre Mauern waren mit unzähligen Einschusslöchern übersät. Aber nirgendwo lagen Glasscherben – denn keines dieser Gebäude hatte je Fenster gehabt. Und der gelbe Staub der Wüste und der Khamsin waren durch offene Fenster und Türen geblasen worden und hatten sich in den Ecken dunkler, stallartiger Zimmer aufgehäuft, die offensichtlich niemals für menschliche Bewohner gedacht waren.
Das Ganze sah wie der grobe Entwurf einer Stadt aus. Die Idee einer Stadt, in der ein sehr reales Gefecht – und vielleicht nicht nur eines – stattgefunden hatte.
»Wo sind wir hier?«, fragte er mit einem Schaudern.
»In einer Höllenstadt.«
»Wozu hat sie gedient.«
»Das sage ich dir besser nicht.«
»Osnat?«
»Was?«
»Könnten wir … könnten wir vielleicht noch einmal auf unser Gespräch von gestern zurückkommen? Du weißt doch, wir haben uns über einen meiner Freunde unterhalten.«
»Und warum zum Teufel sollte ich mich noch mal über ihn unterhalten?«, fragte sie.
»Ich dachte nur …«
»Du hast dir gar nichts gedacht«, schnauzte sie. »Wenn du etwas zu sagen hast, kannst du es Mosche sagen. Es ist nicht meine Aufgabe, Geschenke zu verteilen oder den Leuten eine Schulter zum Ausweinen hinzuhalten.«
Sie zog ihre Jacke aus und bewegte sich dabei auf eine schroffe, nervöse Art, als habe die Verärgerung ihre Körpertemperatur
über eine verträgliche Grenze getrieben. Und dann tat sie etwas, das Arkadys Puls gleichermaßen vor Schrecken und Hoffnung rasen ließ. Mit der rechten Hand, teilweise verdeckt vom Tarnmuster ihres Mantels, zeigte sie zum Himmel.
Es war eine flüchtige Geste, so schnell vorbei, dass sie Arkady völlig entgangen wäre, wenn die Angst und Anspannung der letzten Wochen seine Sinne nicht so geschärft hätten. Aber die Bedeutung der Geste war unmissverständlich: Sie wurden beobachtet.
Ein Schatten, nicht viel größer als der Schatten eines vorbeifliegenden Spatzen, huschte über den felsigen Boden. Hoch am Himmel blitzte etwas silbern in der frühen Morgensonne. Eine Überwachungsdrohne. Hatte sie Arkady und Osnat schon bei ihren früheren Spaziergängen begleitet? Ja, wurde ihm nun klar; er hatte sie sogar bemerkt, aber angenommen, dass es sich um einen vorbeifliegenden Shuttle oder einen Satelliten in einer niedrigen Umlaufbahn handelte. Wer konnte schon auf all den Metallschrott achten, den Menschen in die Umlaufbahn ihres Planeten geschossen hatten?
Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen und das Gespräch an der Stelle fortzusetzen, wo es ins Stocken geraten war. »Tut mir leid. Ich … ich wollte damit nicht andeuten, dass ich eine Bitte an dich habe. Ich wollte dir nur … nur für das danken, was du bereits für mich getan hast.«
»Ich habe nichts getan.«
»Aber natürlich. Die Bücher. Die Spaziergänge. Ich … Ich weiß das zu schätzen. Du bist eine großzügige Person.«
Sie runzelte die sonnenverbrannte Stirn und legte den Kopf schräg, um ihn besser ansehen zu können. »Na so was! Das ist bestimmt das erste Mal, das mich jemand großzügig genannt hat!«
Vorsichtig und bemüht, es möglichst unauffällig zu tun, sah Arkady in die Richtung, in die sie offenbar gezeigt hatte.
Ein Haus – oder besser ein Pseudohaus – genau wie die anderen an der Straße. Er trat ein. Osnat folgte ihm.
Im dunklen Innenraum umschlich sie ihn wie eine Katze. Sie war in Eile, wurde ihm klar. Und vor Nervosität oder Furcht zitterten ihre Nerven – was ihn so sehr erschreckte wie nichts anderes in den letzten Wochen.
»Meinst du ernst, was du gestern gesagt hast? Dass du deinen Hals riskieren würdest, um deinen Freund zu retten?«
»Ja.« Arkady musste den Hals verdrehen, um sie im Auge zu behalten.
Sie schlich zur Tür zurück und griff mit einer Hand nach oben, um den Vorhang wegzureißen. »Bist du dir sicher? Das solltest du nämlich. Denn ich habe vor, eine Rettungsleine zu werfen. Und wenn ich es für die falsche Person tue, wird man uns beiden die Abreibung unseres Lebens verpassen.«
Warum hatte Arkady plötzlich das unbehagliche Gefühl, dass er gerade das Wort »Abreibung« zum ersten Mal in seinem Leben als Euphemismus gehört hatte?
»Was … An wen willst du dich wenden?«
»Ich weiß es nicht. Und
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