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Lichtjagd

Lichtjagd

Titel: Lichtjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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wollte, ein Reich der Gespenster, in dem die Orangen des letzten Jahres ungegessen unter den Bäumen lagen und das Gras um die Gräber hüfthoch wuchs. Hier umgab die Welt sie mit solcher Stille und Ruhe, dass man meinen konnte, man sei auf Novalis.
    Li und Osnat hatten sich gemeinsam mit dem israelischen Hauptmann über ein Karten-Mikrofiche gebeugt. Arkady saß neben Cohen, der am weiteren Vorgehen genauso wenig interessiert zu sein schien wie er. Als die Frauen sich schließlich von der Karte lösten, hatte Osnat einen mürrischen Ausdruck im Gesicht und fummelte auf eine Weise am Abzug ihrer Waffe herum, dass sich Arkady der Magen zusammenzog.
    »Du hast um Hilfe gebeten«, sagte die KI zu Osnat.
    »Nicht von einem palästinensischen Verräter!«
    »Halb-Palästinenser«, korrigierte Cohen sie.
    Wieder betastete Osnat ihre Waffe. Keiner der Israelis schien die Bewegung zu bemerken; doch ganz plötzlich, ohne dass sie sich überhaupt bewegt zu haben schien, stand Li neben Osnat und hatte sie an der Abzugshand gepackt. Es schien eine ganz leichte, fast beiläufige Berührung zu sein. Aber tatsächlich wurden Osnats Finger weiß, so fest drückte Li zu. So langsam, als spiele sich alles unter Wasser ab, rutschte Osnat das Gewehr aus der Hand und glitt an ihrer Seite herunter, bis es in der Trageschlinge hängen blieb.
    »Es ist alles in bester Ordnung«, versicherte Cohen dem israelischen Hauptmann. Unendlich sanft nahm er Osnat die Waffe ab, entfernte den Munitionsstreifen und steckte ihn ein.
    Osnat wandte sich hilfesuchend dem Hauptmann zu, doch der betrachtete ausgiebig den Matsch, der sich bei der Flussüberquerung an seinen Stiefeln gesammelt hatte.
    »Du kennst den Heimweg«, sagte Li in einem Ton, der Osnat eine klare Entscheidung abverlangte. Arkady hatte
immer mehr den Eindruck, dass dieser Tonfall eine Grundkomponente ihrer emotionalen Architektur ausdrückte. »Wenn du umkehren willst, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.«
    »Und was wird aus Arkady?«
    »Was würdest du sagen?«
     
    Danach hatten sie noch ein weites Stück zu laufen. Es ging nur bergab, die meiste Zeit durch das hohe Gras und verfilzte Unkraut des riesigen IAS-Friedhofs. Arkady, der vor Erschöpfung ganz stumpfsinnig geworden war, bemerkte erst, dass die anderen stehen geblieben waren, als sie dem hohen eisernen Tor von Yad Vashem direkt gegenüberstanden.
    Li streckte eine Hand aus und rüttelte kräftig am Riegel. Er hielt, und als Arkady näher hinsah, bemerkte er auch warum: jemand hatte eine schwere Kette um die Gitterstäbe geschlungen und mit einem kräftigen Vorhängeschloss versehen.
    Li warf Cohen einen Blick zu, und wieder hatte Arkady das unheimliche Gefühl, dass zwischen ihnen eine Kommunikation stattfand, von der niemand etwas mitbekam.
    »Hast du denn eigentlich schon mit ihm gesprochen?«, fragte Li laut.
    Cohen schien sich gegen einen Streit zu wappnen, aber die Schultern des Oberlay-Wirts sackten leicht herunter. »Nein. Aber er ist bestimmt hier. Wo sollte er sonst sein?«
    Li schnaubte. »Ich mache mir keine Sorgen, ob er hier ist. Es geht darum, ob er rauskommt und mit uns sprechen will.«
    »Es gibt keine Mauer«, bemerkte Osnat. »Wir können einfach das Tor umgehen, wenn wir wollen.«
    »Das ist keine gute Idee.« Li trabte zur Straße zurück, riss ein Stück losen Asphalt ab und warf es in die Bäume zur einen Seite des Tors. Es segelte träge durch die Luft – und verschwand auf einmal in einer Dampfwolke, als habe es eine unsichtbare Grenze passiert. »Ich wollte zwar ein bisschen abnehmen«, witzelte Li. »Aber so viel nicht.«

    »Und was sollen wir jetzt machen?«
    »Wir warten.«
    »Worauf?«
    »Dass ihm klar wird, wir werden nicht verschwinden, bis er runterkommt und mit uns redet.«
    Es dauerte fast eine Stunde, bis am Ende der langen, baumgesäumten Straße, die zu den Toren führte, eine ferne, schwankende Gestalt erschien. Im ersten Moment glaubte Arkady eine Maschine oder ein Ungeheuer zu sehen. Das Wesen schien viele Beine zu haben, und es bewegte sich wellenförmig und seitwärts auf eine Art, aus der er nicht schlau wurde. Als die Gestalt über den Hang auf sie zukam, löste sie sich in zwei Umrisse auf: ein großer, geschmeidiger und eleganter Mann, dem ein Hund auf dem Fuße folgte. Die späte Nachmittagssonne tauchte den Kopf des Mannes in einen goldenen Glanz und blitzte um seine Füße auf eine Weise, die Arkady sich erst erklären konnte, als er bemerkte, dass der Mann Shorts trug

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