Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichtjagd

Lichtjagd

Titel: Lichtjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
Vom Netzwerk:
Nation zu beschreiben. Meta-Agenten sind Aggregate von Agenten und kleineren Meta-Agenten und können selbst wiederum zu größeren Meta-Meta-Agenten zusammengefügt werden. Jedes System ist ein Durcheinander von überlappenden Hierarchien und Gruppierungen, und ihre Beschreibung ist immer nur eine zweckdienliche Vereinfachung zum Nutzen des jeweiligen Beobachters.
    Simon Levin (2001)

    A m Versöhnungstag war Jerusalem in eine Schneedecke gehüllt. Die Kaltwetterfront, die von den Gletschern über dem Oberlauf des Jordan heranrückte, traf die Stadt am Tag vor Jom Kippur. Bei Sonnenuntergang fing es an zu schneien, und die ganze Nacht hindurch bis in die frühen Morgenstunden wurde der Schneefall immer dichter. Es schneite immer noch, als Cohen aus dem König-David-Hotel auf die Straße trat, dem einsamen Portier zunickte, der trotz Unwetter und Feiertag im Dienst war, und durch die Kälte bis zum Checkpoint am Damaskus-Tor spazierte.
    Die ganze Stadt schien dahinzutreiben und sich leicht zu wiegen wie der Schleier aus Schneeflocken, der vom Himmel rieselte. Es herrschte fast kein Verkehr. Wie an Jom Kippur üblich war nur eine Handvoll langsamer Fahrräder unterwegs, die reibungslos und leise wie die Zahnräder in einer mechanischen Uhr durch die weißen Straßen glitten. Ohne ihren alltäglichen Panzer aus Kosmetika wirkten die Gesichter der Frauen blass und verletzlich, und Männer blickten einander mit dem ergriffenen Staunen von Kindern über ihre gewickelten Schals hinweg an.
    Das Haus in der Abulafia-Straße war noch genauso, wie Cohen es in Erinnerung hatte. Hohe Mauern, ein hohes Tor und ein Garten, so versteckt wie der von Salomon besungene. Sicher war das Haus einmal eine Karawanserei gewesen. Vor sechs Jahrhunderten hatte es als eine Schaltstelle in einem mit Kamelen betriebenen Netzwerk fungiert, das so vital gewesen war wie das quantenverschlüsselte, interplanetare Netzwerk des Stromraums. Heute war es nur noch
eine verstaubte Ruine, eine Wegmarke an einer vergessenen Straße zwischen zwei Nirgendwos.
    Er trat durch die kleine Tür, die man in die untere linke Ecke des Tors eingesetzt hatte. Eine Tür in einer Tür. Hyacinthe hatte diese kleinen Türen gemocht, die in der mediterranen Architektur seiner Heimatstadt weit verbreitet waren. Diese kindische Vorliebe für Muster und Paradoxa war vielleicht ein erster Hinweis auf die verwickelte Verworrenheit gewesen, die für sein späteres Werk so charakteristisch werden sollte.
    Der Hof lag leer unter einem weißen Himmel. Der Schnee drückte die wenigen Blätter, die noch an den Rosenstöcken hingen, nach unten und trieb in die Winkel des winterlich stillen Brunnens. Im Hauptgebäude brannte kein Licht, aber an einer Seite des Hofs führte eine Spur von Fußabdrücken entlang. Die Fußabdrücke waren kaum noch zu erkennen; ein anhaltendes, wellenartiges Schneetreiben hatte sie hier und dort völlig zugedeckt, sodass sie wie die Spuren eines Wesens wirken, das über die Gabe des Fliegens verfügte, aber nur über eine kurze Strecke.
    Auf einmal fühlte Cohen sich sehr einsam. Und die Tatsache, dass er aus eigenem Entschluss allein war – dass er seine aktiven Programme auf das Allernötigste beschränkt und seinen assoziierten Netzwerken geraten hatte, in ihrem eigenen Interesse im Ring zu warten –, milderte das Gefühl der Einsamkeit nicht im mindesten.
    Er tastete sich an der immer noch ungewohnten Peripherie des EMET-Interfaces entlang, das er und Gavi die ganze Nacht hindurch modifiziert hatten. Alles war ruhig. So wie es sein sollte. Sie würden jeden Vorteil ausnutzen müssen, der sich ihnen bot, einschließlich des Überraschungsmoments. Auf den Yad-Vashem-Golem brauchte er nicht eigens zu achten. Cohen konnte die düstere Ausdünstung seiner Verzweiflung riechen. Hinter den Firewalls, die er um ihn errichtet hatte, konnte er verfolgen, welche qualvollen
Fortschritte er machte – hinter Mauern, die wie Zunder niederbrennen würden, wenn der flackernde Funke der Empfindungsfähigkeit jemals zu einem echten Feuer auflodern würde.
    Die Fußabdrücke bogen zu einer schäbigen kleinen Seitentür ab, die sich hinter einem blattlosen Kadaver verbarg, der so aussah, als sei er einmal ein Fliederbaum gewesen. Cohen folgte den Spuren ins Haus und wartete, bis sich Rolands Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Spur führte weiter, keine Fußabdrücke mehr, sondern nur noch vereiste Flecken und Pfützen auf Holzbohlen, die Generationen von

Weitere Kostenlose Bücher