Lichtjagd
einzigen lebenden Verbindung mit einer Vergangenheit machte, die für den Rest der Menschheit tote Geschichte war –, dass Hyacinthes Großvater 1943 nach Dachau verschleppt worden war und es nicht überlebt hatte.
Und so war Cohen im Laufe der Zeit etwas zwischen einem Sayan und einem Katsa geworden, ein vollwertiger Mossad -Agent. Er hatte fünfmal den Katsa -Einführungskurs belegt – vorgeblich um seine Fachkenntnisse aufzufrischen, tatsächlich aber, um seine Beziehungen zu den aufeinanderfolgenden Generationen der menschlichen Mossad -Führung zu festigen. Er hatte für all die Großen gearbeitet: Gershon,
Barzilai, Hamdani und jetzt für den legendären Didi Halevy. Er hatte krumme Dinger gedreht, manchmal so krumm, dass selbst seine Unterstützer im Sicherheitsrat mit den Schultern gezuckt und seine wahrscheinliche (wenn auch nie ganz beweisbare) Schuld zugestanden hatten. Aber Cohen war reich, außerordentlich reich. Also hatte man darüber hinweggesehen und ihn toleriert.
Bis Tel Aviv. In einer einzigen blutigen Nacht waren in Tel Aviv ein Dutzend UNSR- und Mossad-Agenten getötet, Gavis Karriere beendet und Cohen seiner französischen Staatsbürgerschaft und der letzten Möglichkeit beraubt worden, seine Verwicklung glaubhaft widerlegen zu können.
Und warum eilte er Didi jetzt wieder zu Hilfe? Und warum zum Teufel schleppte er Li mit?
Bei dem Gedanken, Li in die Nachwehen der Vorfälle von Tel Aviv hineinzuziehen, waren all die Schuldgefühle, Ängste und Selbstvorwürfe, die er so lang unter den Teppich gekehrt hatte, wieder schmerzhaft ans Tageslicht gekommen. Und mit ihnen kam die leise, bange Befürchtung, dass er einen Geist heraufbeschworen hatte, der über sein Grab schritt … sofern er nicht selbst der Geist eines Mannes war, dessen Grab nicht mehr existierte.
Fühlten sich alle Spione so? Litten sie alle unter dem bohrenden Unbehagen, dass die sichere Alltagswelt vielleicht nur die Oberfläche eines tiefen Ozeans war und sie die schwache Oberflächenspannung durchbrechen und ertrinken würden, wenn die Schotten, die sie um ihre getrennten und im Konflikt liegenden Leben errichteten, jemals dem Druck nachgaben? Menschlichen Spionen blieb immerhin die Einheit ihrer Körper, auf die sich zurückziehen konnten: auf ihr Gehirn, einen Satz von Erinnerungen und die unangreifbare physiologische Überzeugung, dass das Chaos, das unter ihren Schädeldecken tobte, einmalig, unverwechselbar und bedeutungsvoll war. Cohen hatte nichts außer dem spukhaften Phänomen der Emergenz, an dem er seine Identität
festmachen konnte. Und wie lang konnte man dort draußen in der Kälte der Verlogenheit überleben, wenn man selbst nur ein Gespenst war?
Viertel nach fünf öffnete sich die Tür am Ende des Saals, und der Mann, auf den sie gewartet hatten, trat heraus.
»Cohen!«, rief er. »Willkommen daheim, mein Freund!« Er sah zwischen den beiden hin und her. Sein Gesicht strahlte hinter flaschengrünen Brillengläsern, und sein gewöhnlich abgehärmtes Gesicht war ganz zerknittert von einem schalkhaften Knabenlächeln. »Wer von euch beiden bist du denn?«, fragte er. »Wen von euch darf ich küssen, und wer muss sich mit einem Händeschütteln begnügen?«
Cohen trat in die ausgestreckten Arme des kleinen Mannes. »Du darfst uns gern beide küssen. Aber mich bitte zuerst.«
Didi Halevys Freunde sagten, dass er wie ein arbeitsloser Bestattungsunternehmer aussah. Didi Halevys Feinde sagten, wenn sie klug waren, überhaupt nichts. Cohen hatte sich einmal mit einem Katsa unterhalten, der mit Didi den NorAm-Sektor bearbeitet hatte, als sie beide noch einfache Feldagenten waren. »Er sollte im Wörterbuch unter dem Stichwort nebbich stehen«, hatte der Mann bewundernd gesagt. »Wenn Didi ein Zimmer betritt, würde seine eigene Mutter schwören, dass gerade jemand gegangen ist!«
All das machte Cohen um so mehr bewusst, wie unmenschlich er selber war. Denn für Cohen war Didi immer mehr und nicht weniger real als die meisten anderen Menschen gewesen. Und obwohl er und Didi sich nur in großen Abständen sahen, und gewöhnlich nur in Krisensituationen, gab es nur wenige Dinge, die er mehr genoss, als sich eine Stunde mit diesem außerordentlichen Mann zu unterhalten, der auf seine Mitmenschen so unerklärlich gewöhnlich wirkte. So war es jedenfalls bis zu den Vorfällen in Tel Aviv gewesen.
»Können wir dich zum Abendessen einladen, wenn wir hier fertig sind?«, fragte Cohen.
»Nein. Aber ihr könnt
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