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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Merkel
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jüdische Viertel anzuschauen. Dort, wo ich mit ihr eine Zeitreise machen, wo ich mit ihr in eine andere Welt eintauchen will, um vor einem Geschäft stehen zu bleiben, in dem man Nylons kaufen kann, die wie Stützstrumpfhosen aussehen und in denen Gardinen hängen, die seit zwanzig Jahren nicht mehr bewegt worden sind. Zwei Straßenzüge entfernt. Zurück in die 50er oder was davon übrig geblieben ist, aber wir gehen daran vorbei. »Gefällt er dir?«, frage ich. »Er ist tot«, sagt sie und möchte über ein anderes Thema sprechen. Ich stütze mich auf der Couch ab. Es ist alles fertig gepackt. Ich habe ihr den Inhalator aus München mitgebracht, aber wir sind schon auf der Straße, auf dem Weg zur Bedfort Avenue, als es mir einfällt, und ich fühle mich nicht in der Lage, die zwei Stockwerke durch das enge stickige Treppenhaus zurückzulaufen und ihn zu holen. Ich räume die Wohnung auf, die Warnsignale der zurücksetzenden Lastwagen im Ohr, die neue Lieferungen bringen. Die Arbeiter tragen die Fleischstücke zum Kühlhaus, das man vom Fenster aus nicht sehen kann. Sie hat keine Ahnung, wie sie aussieht. Sie hat nicht die geringste Idee. Es ist das Aufregende bei unseren Museumsbesuchen, dass ich sie nicht anfassen kann. Es ist ein Ort, an dem sogar die Blicke kontrolliert werden. Sie hat sich das Haar hochgebunden und stolziert an den Bildern vorbei, und ich schaue immer nur auf ihren Nacken, während sie, im Bewusstsein, dass ich sie berühren möchte, die Bilder anschaut. Ich habe das Gefühl, als wäre sie immer dabei, selbst auf der Schifffahrt, die ich mit Mads Christiansen mache. Immer läuft sie in Gedanken neben mir her, und ich muss sie manchmal gewaltsam von meinen eigenen Erinnerungen abtrennen, von den Erlebnissen, die ich ohne sie gehabt habe. »Kannst du dich noch erinnern, wie wir am Hudson River entlanggelaufen sind«, könnte ich sie fragen. Natürlich kann sie sich daran nicht erinnern. Am Hudson River bin ich mit Mads Christiansen gewesen. Der Spaziergang mit ihr endet am Port Authority Bus Terminal. Mit Mads Christiansen jogge ich am Hudson River entlang, und bis zuletzt bin ich fest entschlossen, dass ich das Schiff nicht betrete und stattdessen zurück nach Williamsburg fahre, um Judith anzurufen. Noch bei den Aufwärmübungen, bei der dritten oder vierten Kniebeuge, schon allein aus Verärgerung über Mads Christiansens absurdes Trainingsprogramm, geht mir der Satz durch den Kopf: »Natürlich kann ich nach Washington kommen. Du hast ja recht. Es ist totaler Quatsch. Ich weiß gar nicht, warum ich nicht gleich darauf gekommen bin.«

    Wir sind schon eine Stunde auf dem Schiff, als es endlich ablegt. Auf dem riesigen Werbeplakat, das an Schnüren quer über das halbe Schiff gespannt ist, steht in Großbuchstaben: »Gay-Sunday-Tea-Dance«. Die Stimmung ist angenehm, alle sind freundlich. Es macht mir nichts aus, dass ich niemanden kenne. Mads Christiansen stellt mich jedem als erfolgreichen Familientherapeuten aus Deutschland vor. »Nein«, sage ich jedes Mal auf Englisch. »Ich selbst habe keine Familie«, und alle lachen, weil sie natürlich denken, dass ich auch schwul bin. Auf einem Tisch liegen Flyer und Prospekte der Filmproduktionsfirma, die den Abend veranstaltet. Es geht um eine Pornofilmproduktion, die Wicked Pictures heißt. Ich denke jetzt, dass das der größte Fehler meiner New York-Reise gewesen ist. Die Idee, mit Mads Christiansen und seinen schwulen New Yorker Freunden eine Dampferfahrt auf dem Hudson River zu machen, anstatt mit Judith in einem mexikanischen Restaurant in Washington zu sitzen und Burritos zu essen. Als ich am Buffet stehe, spricht mich ein Freund von Mads Christiansen an, den ich in meiner Erinnerung immer nur den Schnauzbärtigen nenne. Er ist ein hagerer, asketischer Mann mit einem schmalen Schnäuzer und arbeitet als Investment-Banker in Manhattan. Mads Christiansen hat ihn mir vorgestellt, aber ich habe seinen Namen vergessen. Sein Gesichtsausdruck ist wohlwollend, aber auch spöttisch. Ich frage mich, was er von mir will. Wollen hier alle etwas voneinander? Oder ist es nur Konversation? »Do you like porn?«, fragt er mich später auf dem Oberdeck, als die Präsentation von Wicked Pictures beginnt und wir uns wiedersehen, nachdem ich zuvor vor ihm geflohen bin und mich mitsamt meinem mit Hähnchenbeinen und Nudelsalat vollgeschaufelten Teller auf der Toilette versteckt habe. »Do you like porn?« Mein Eindruck ist, dass Mads Christiansen mich nur

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