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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Ahnung einer Blindheit erfüllte, wie er sie sich in seinen kühnsten Alpträumen nicht ausgemalt hatte. Wo die schwarzen Schwaden den Boden berührten, war das Gras verdorrt, war die Erde vertrocknet und gespalten, waren sogar die Kiesel zerbröselt, die überall am Fuß der Berge verstreut zwischen den borstigen Büscheln des Steppengrases lagen und der Legende nach einst zu den Krograniten gehört haben sollten, von denen die Eisernen riesige Felsbrocken auf die heranstürmenden Heere der Nachtmahre geschleudert hatten. Eine kreisförmige Zone der Ödnis umgab die Rauchglocke, ein Ring der völligen Unfruchtbarkeit, und in diesem Wüstenstreifen, neben dem sich andere, gewöhnliche Wüsten wie üppige Gärten ausnahmen, lagen weiße Gebeine. Calhan schnalzte entzückt.
    Dort lagen Totenschädel und Knochen ohne eine Spur von Fleischbesatz. Totenschädel mit Augenhöhlen blind wie zu Lebzeiten. Bleiche Knochen, grätige Gerippe, feine Knöchel, glatte Wirbel, geschliffene Gelenke in tollem Durcheinander, wie aus einem Massengrab, das ein Nachtmahr in nekrophiler Gier aufgewühlt hatte, um an den letzen Resten menschlichen Daseins seine fremdartigen Gelüste zu stillen. Und über den Gebeinen wallten und wirbelten Schwaden aus Rauch und tanzten wild zur Melodie des Steppenwindes.
    Vielleicht war es dieser Rauch, der das Fleisch der Toten fortgeätzt hatte.
    Oder vielleicht hatte der Wind in seiner elementaren Neugier das vergängliche weiche Gewebe fortgetragen und das Weiß der Knochen bloßgelegt.
    Es war einerlei. Für Calhan machte es keinen Unterschied. Der Anblick der Knochenstätte schmeichelte seinem morbiden Sinn für Schönheit, seinem verderbten Geschmack für das Abartige, seiner Lust an allen mißratenen Dingen.
    Calhan kicherte bei diesem Anblick.
    Er rieb sich die Hände, daß seine Pergamenthaut trotz der regnerischen Nässe trocken raschelte; er verzog den welken Mund zu der lüsternen Travestie eines Lächelns; er riß die Augen weit auf und betrachtete alles mit schamloser Verzückung; und immer wieder gab er schmalzige Laute des Wohlbehagens von sich. Nie hätte er erwartet, etwas derart ausgesucht Häßliches, etwas derart exquisit Krankes in der widerwärtig pittoresken Idylle Ostiens vorzufinden. Doch dann, noch während sich seine Augen an den klebrig wallenden, wurmig kriechenden Schwaden festsaugten, verdüsterte sich sein runzliges Gesicht und wurde fast so dunkel wie die Glocke aus Rauch.
    Calhan dachte an Lyzis.
    An das, was der Bote von ihm verlangt hatte.
    An das, was er tun mußte, damit die Tat der Gehirne gelang.
    Mit einer üblen Verwünschung erhob sich Calhan vom staubigen Boden, dem rußverfärbten Boden, der so ebenholzschwarz war wie alles in und um Qu’ail, und er betrat den verödeten, vergifteten Streifen Niemandsland.
    Er atmete die ätzende Luft, aber der Brodem erstickte ihn nicht, wie es einem normalen Menschen ergangen wäre. Er watete durch rußige Pestilenz, doch das Fleisch seiner nackten Füße verdorrte nicht, wie es das Fleisch gewöhnlicher Menschen getan hätte. Er schritt in die Lichtlosigkeit des schwefligen Rauches, doch er erblindete nicht, wie jeder andere Mensch erblindet wäre. Was er sah, waren nur Schatten, aber die Schatten genügten, um ihm den Weg zu weisen, denn obwohl er es nicht ahnte, waren die Gehirne noch immer bei ihm; unsichtbar nisteten sie in seinem Kopf, in der Kloake seiner boshaften Seele, dort, wo sich Calhan selbst in seinen Alpträumen nicht hinunterwagte, weil er fürchtete, im Brackwasser seiner entmenschlichten Gefühle zu ertrinken. Für die graupelig quellenden und knatzenden Ungeheuer der Kronberge stellte der Rauch kein Hindernis dar und sie führten Calhan ohne Zögern durch die Finsternis des schweifigen Nebels bis hin zum einzigen Tor in der Stadtmauer von Qu’ail, zum Tor, das immer offen stand, weil Lyzis sich über jeden neuen Gast in der Stadt freute und weil sie nicht fürchtete, daß ihre geliebten Untertanen so närrisch waren und allesamt hinaus in das Kirschlicht und damit in den Feuertod flohen.
    Calhan trat durch das Tor und da war kein Wächter, nur ein blinder Bettler, der keine Almosen wollte, sondern jeden Vorbeikommenden anflehte, ihm das Brot zu nehmen, das ihm zu jeder Stunde von gnadenloser Hand in den Schoß gelegt wurde, und er verweigerte die Bissen, da er hoffte, durch Fasten das Wachstum seines Fleisches zügeln und so dem Mittagstisch der Lady Lyzis entgehen zu können.
    Calhan erschlug ihn, weil

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