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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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locken. »Bist du bereit, mir zum Glaspol zu folgen?«
    »Ich bin bereit«, sagte Than Mayen.

 
IX
     
    Wie war es möglich, daß Than Mayen so arglos Calhan von Nyanderhen folgte? Ausgerechnet Calhan von Nyanderhen, der nach Bosheit roch und nach Schlechtigkeit aussah, und in dessen schwarzer Seele die qualligen Gehirne brüteten? Wie war es möglich, daß Than Mayen diesem Calhan zum Glaspol folgte? Zum Glaspol! In den Quarzfjord!
    Weil er sich selbst täuschte?
    Weil er glaubte, das Leben hätte sich anders besonnen, und ihn nun erhört? Weil er glaubte, die Gesundheit hätte ihn nur auf die Probe stellen wollen, und sich jetzt seiner erbarmt? Weil er glaubte, daß sein Kummer die Vollkommenheit zur Einsicht gebracht, und daß die Vollkommenheit ihm die Rettung in Gestalt Calhans geschickt hatte?
    Oder weil Than Mayen wahnsinnig war?
    War er wahnsinnig?
    War er so krank und verschroben wie Calhan, wie Lyzis, wie die Gehirne selbst, nur auf andere Art, auf eigene Art, auf die Art der Guten und Arglosen, die sich in ihrem Wahn gute Dinge einbildeten und nicht Zuflucht in der Grausamkeit, der Schlechtigkeit, dem Haß suchten?
    Niemand wußte es.
    Than Mayen verschwand im unirdischen Verließ am Ende des Quarzfjords.
    Lyzis starb im Kirschlicht des Tages.
    Calhan kehrte zurück nach Nyanderhen, residierte weiter im Dom aus Stahl und Stein und wartete voller Furcht auf das Erwachen des Eisenmanns.
    Und die Gehirne quollen wieder käsig und quallig in ihr Schädelgestein, um weiter Wacht unter den Sternen zu halten und gegen die Gehörnten und die kosmischen Nachtmahre in den Krieg zu ziehen, sollten sie sich erdreisten, ein zweites Mal aus der Leere zur Erde zu kommen.
    Than Mayen folgte Calhan zum Glaspol.
    Ein Schiff ohne Mannschaft trug sie über das Polmeer, ein algenbewucherter alter Kahn, der von den Winden und den Strömungen gesteuert wurde, und der nach zwölf Tagen und dreizehn Nächten den Pol erreichte – die funkelnden Glasklippen der Küste, die quarzigen Einschnitte in den Klippenbergen, die tiefen Einschnitte, in deren Labyrinth der Kahn verschwand.
    Oftmals fragte Than Mayen: »Ist es noch weit?«
    Und stets antwortete Calhan: »Es ist nicht mehr weit.«
    Calhan hatte recht.
    Denn die Gehirne sahen sich nah am Ziel ihrer Wünsche, und sie entfesselten plötzlich die chthonischen Kräfte unter den Schollen der Kontinente, unter den nassen Gründen der bleichen Ozeane, so daß mächtige Beben nach Süden wanderten. Nach Süden und weiter nach Süden, bis die Beben den Glaspol erschütterten, bis sie aus der Tiefe nach oben stiegen, rumpelnd und grollend hinauf zum Wasserspiegel und zum Sonnenlicht, das sich in den Flanken der quarzigen Hügel und in den Schründen der gläsernen Schluchten spiegelte. Das Meer bäumte sich auf, und das Schiff tanzte wild auf den Wogen, und der Boden des Glaspols barst und zersplitterte in Milliarden Scherben, die wie die gefrorenen Tränen der Gehörnten in der Sonne schimmerten, funkelnd den Himmel verhüllten und schließlich klirrend niederregneten, auf hochgetürmte Trümmerbrocken, auf zerbrochene Klippen, in klaffende Glasspalten, in Krater mit gezackten Wällen. Und Than Mayen schrie vor Angst, und Calhan lachte vor Vergnügen, und der Wind pfiff über das aufgewühlte Meer, das geborstene Land, in die glasigen Staubschwaden hinein und putzte die geschliffen scharfen Küsten blank, in die die Beben tiefe Fjorde gemeißelt hatten, krumme Einschnitte, die sich weit glaseinwärts erstreckten.
    Zu den Quarzgräbern der Zeit.
    Zu den Friedhöfen absonderlicher Scheußlichkeiten, wo die Gefallenen der kosmischen Kriege wie Insekten in Bernstein in Särge aus Glas eingeschlossen waren.
    Hier rosteten die Gebeine erschlagener Eisenmänner in klammer Gischt und drehten ihre gespaltenen Schädel den Wolken zu, wie um den unsichtbaren Sternen zu drohen, von denen ihre Mörder herabgestiegen waren. Dort gleißte der zerschmetterte Leib eines Gehörnten unter dem roten Sonnenball und streckte vergeblich einen bröseligen Arm den Schatten der Glasklippen entgegen, die Schutz vor der Hitze des Tages versprachen. Da rollten die mumifizierten, strohigen Kadaver kosmischer Nachtmahre vom Wind getrieben über zerschrammte Quarzebenen und suchten mit verbrannten Augen nach Geschöpfen mit rosigem Fleisch und heißem Blut, um wie einst in der Vergangenheit gefräßig über sie herzufallen. Und dort – krank und fahl im kirschroten Sonnenlicht – wölbte sich der aufgedunsene Leib

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