Lichtjahreweit
benutzt werden.«
Sie bestrich das Brötchen mit Butter. »Warum auch nicht? Wenn ich fünfzig Freikilometer im Monat hätte, würde ich auch nicht mehr mit der Magnetbahn fahren. Ich würde mich auch direkt vor die Haustür kutschieren lassen. Dabei braucht man noch nicht einmal gebrechlich zu sein. Man muß nur seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert haben.« Sie verzog den Mund. »Wenn ich ein Junior-Aktivist wäre, ich würde mir für einen Anschlag die Südstadt aussuchen. Oder die Rheinterrassen. Gott, all diese alten Menschen, die an den Rheinterrassen mit dem wundervollen Blick auf den Fluß wohnen. Dabei haben die doch nichts von der Aussicht, oder? Die meisten sind doch blind. Oder so gut wie blind. Kurzsichtig und …«
»Sie tragen Brillen«, unterbrach Jaumann. »Kontaktlinsen. Transplantate. Manche von denen sehen mehr als du und ich zusammen.« Vorsichtig nippte er erneut an seinem Kaffee. Er verzog den Mund. Zu süß.
Ein hungriger Ausdruck trat in Katrins Augen, aber ihr Hunger galt nicht dem Brötchen, dessen knusprige, gebutterte Spitze soeben in ihrem Mund verschwand und von den Schneidezähnen geköpft wurde. »Vielleicht hat es Tote gegeben«, sagte sie kauend. »Wie in Berlin. Wie am Blutsonntag.«
»Nein.« Jaumann schüttelte den Kopf. »Dann hätten sie es in den Nachrichten gebracht. Du hast doch gehört: Nur ein Dutzend Unfälle mit geringen Sachschäden. Die Automatentaxis haben bei den ersten Störungen die Parkstreifen und Haltebuchten aufgesucht. Sie sind programmiert, bei irgendwelchen Zwischenfällen an den Straßenrand zu fahren. Was in Berlin passiert ist, kann sich in Köln nicht wiederholen. Selbst wenn der Zentralcomputer von einem Krebsprogramm lahmgelegt wird – unsere Cittax rasen nicht wie Geschosse aufeinander los. Sie fahren an den Straßenrand.«
Katrin kaute. Ihre Backenzähne mahlten knirschend aufeinander und zermalmten das Brötchen Stück für Stück. Jaumann hörte fasziniert zu. Es war ein obszönes Geräusch. Es erinnerte ihn an eine hydraulische Presse, unter der Knochen barsten.
»Wieviel Menschen sind beim Berliner Massaker ums Leben gekommen?« fragte Katrin. »Hundert? Zweihundert?«
»Zweihundertsiebenundachtzig«, antwortete Philip Jaumann. »Keiner davon war jünger als sechzig. Du kannst im BTX nachschauen. Es war schrecklich. Die Automatentaxis sind zu Dutzenden aufeinander zugerast. Kamikaze. Wie diese Verrückten japanischen Flieger im Zweiten Weltkrieg.«
»Von Rasen kann keine Rede sein«, sagte Katrin. Sie griff nach der zweiten Brötchenhälfte.
»Wie?«
»Cittax können nicht rasen«, sagte Atrin. »Ihre Höchstgeschwindigkeit liegt bei vierzig Kilometer pro Stunde. Nennst du das rasen?«
»Sie sind aufeinander zugerast, und vierzig und vierzig macht achtzig. Das Krebsprogramm hat den Berliner Rechner völlig durcheinandergebracht. Jedes zweite Automatentaxi scherte auf die Gegenspur aus. Die Perversion des Reißverschlußprinzips. Ohne das rasche Eingreifen der Techniker hätte es noch mehr Tote gegeben. Aber das eingeschleuste Programm haben sie bis heute nicht eliminieren können.
Jedesmal, wenn sie glauben, das verdammte Ding endlich gelöscht zu haben, baut sich das Krebsprogramm von neuem auf. Eine teuflische Sache. Die gesamte Software ist ruiniert.«
Katrin senkte Brötchen und Messer. Sie sah ihren Mann an, und plötzlich waren ihre Augen groß und furchtsam. »Und wenn so etwas doch hier in Köln passiert, Philip?« fragte sie. »Was ist, wenn diese verdammten Juniacs auch unseren Verkehrscomputer mit einem Krebsprogramm verseuchen? Ich meine« – das Messer fuhr hoch, zerschnitt blitzend die Luft – »ich meine, dann sind wir doch alle in Gefahr. Nicht nur die Alten.«
»Seit Berlin hat man dazugelernt«, sagte Jaumann. Er ließ das Messer nicht aus den Augen. »Die Sicherungen sind so gut wie perfekt. Außerdem sind die Jugendlichen hier in Köln weniger radikal. Wir sind keine Greisenstadt wie Berlin. Bei uns besteht die Bevölkerung nicht zu neunzig Prozent aus Rentnern. Wir liegen bei knapp sechzig Prozent. Das ist schon ein Unterschied. Wirklich. Das macht verdammt viel aus.«
Der Vormittag war grau und regnerisch, und erst gegen elf Uhr riß die Wolkendecke auf. Der matte Klecks der Herbstsonne stand über den Dächern der Stadt, wo die bunten Plexiglasplatten der Fluoreszenz-Kollektoren das diffuse Licht tranken und über ihre Solarzellen in Strom umwandelten. In der Ferne reckten sich die zwanzigstöckigen
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