Lichtjahreweit
einer Schmerzarche empor.
Einer Schmerzarche.
Das gespenstische Wrack eines dolorosen Schiffes, des letzten Schiffes dieser Art, das es noch auf der Erde gab.
Unmittelbar vor dem Schiff der beiden Männer, am Ende des Quarzfjords, in den die Winde sie getrieben hatten, aus den Splittern eines zersprungenen Glasberges, ragte die Schmerzarche in die Höhe. Die Schmerzarche war groß, groß genug, um hunderttausend Menschen mühelos zu verschlingen. Die Schmerzarche war schwarz, schwärzer als die Nacht im zerstörten Qu’ail, schwärzer als Calhans Herz, so schwarz wie das Schicksal, das Than Mayen erwartete. Die Schmerzarche war krank, so krank wie die Fäulnis, die einen Menschen bei lebendigem Leib auffraß, so krank wie die Seelenseuchen, die einen Heiligen in einen Schlächter verwandeln konnten, so krank wie die kosmischen Krankheiten aus den eitrigen Poren der Nachtmahre.
»Was ist das?« schrie Than Mayen.
»Eine Schmerzarche«, kicherte Calhan. »Ein doloroses Schiff«, sagte er und wackelte zufrieden mit dem schrumpeligen Kopf, lächelte wässrig, äugte böse zu dem Ungeheuer hinüber, das so lange im Glas geruht hatte. Dann hob Calhan den Arm. Er deutete mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf Than Mayen, der wie erstarrt dastand, grau im Gesicht, auf dem linken Männerbein und auf dem rechten Frauenbein dastand, und aus Calhans Geste sprach die Macht der Gehirne und schnürte Than Mayen ein, band ihn wie mit Stricken, mit Ketten, so daß er sich nicht wehren konnte, als Calhan ihn ächzend schulterte und an Land und zum dolorosen Schiff der Eisenmänner trug.
Glas knirschte unter Calhans bloßen Füßen, doch es schnitt ihn nicht.
Die Schmerzarche atmete Pestilenz aus, doch sie verseuchte ihn nicht.
Das Kirschlicht brannte wie ein großes, himmelbedeckendes Feuer auf ihn nieder, doch es versengte ihn nicht.
Die Gehirne verboten es.
Und die Schmerzarche öffnete ihr Maul.
Verschlang Than Mayen.
Verschlang ihn für eine Ewigkeit.
Während Calhan entzückt lachte und lüstern schmatzte, und seine runzligen, mörderischen Hände rieb. Und er sagte, außer sich vor Heiterkeit, vor obszöner Freude: »Was ich brauche, was ich wirklich brauche, das ist ein doloroses Schiff. Bei jedem neuen Atemzug ein neuer Stich, ein frischer Schnitt, dorthin, wo’s beliebt, ganz wie’s beliebt. Und alles schreit hinter der Zeit. Schreit laut, laut wie Than Mayen, der gute Mann, der herzenswarme Mensch, der arme Narr.« Calhan schüttelte die Faust, unvermittelt von seiner alten Wut und seinem alten Zorn überwältigt, und er schrie: »Es gibt keine Rettung, Than Mayen! Hörst du, Than Mayen aus der Stadt Hai Zun im Land Mirsingval? Es gibt keine Rettung.«
Dann wandte sich Calhan ab, schritt mürrisch zurück zum Schiff und kehrte finster heim nach Nyanderhen und thronte voller Bosheit weiter in seinem Dom aus Stahl und Stein, unter der Kuppel aus lebendem Gebein. Irgendwann nach langen Jahren starb er dann. Er erfuhr nie, daß er sich geirrt hatte. Er erfuhr nie, daß Rettung manchmal Zeit erforderte, und daß für die Hoffnung die Zeit nicht zählte, und daß das Glück am Ende eines jeden Weges stand.
Calhan erfuhr diese Dinge nie.
Aber die Gehirne erfuhren sie.
Sie lebten lange genug.
So lange, daß sie Than Mayen vergessen hatten, und ihn nicht mehr erkannten, als er den Qualen der Schmerzarche entfloh, als er zurückkehrte in die Welt und die Kronberge erstieg, um den graupeligen Ungeheuern im Fels das Geschenk der Vergeltung zu machen.
Denn Than Mayen kam.
Irgendwann.
In ferner Zukunft.
Methusalem
Ich habe einige Jahre in einem Haus gewohnt, das mit zwei anderen Häusern einen großen Hof abseits der Straße umgrenzte. Hof und Gebäude gehörten einer Erbengemeinschaft: Vier oder fünf alten Schwestern und ihrem etwa vierzigjährigen Neffen.
Teils wurde der Hof als Parkplatz benutzt, teils bestand er aus gepflegten Rasenflächen, von Blumen, Büschen und Bäumen gesäumt. Das Seltsame war: Niemand durfte den Rasen betreten – abgesehen von dem armen Wicht von einem Neffen, der darauf spekulierte, nach dem Ableben der Tanten das gesamte Erbe in die Hand zu bekommen. Um sich das Wohlwollen der Alten zu sichern und sich gegen die Konkurrenz der ferneren Verwandtschaft zu behaupten, mähte er den Rasen, pflegte und stutzte die Blumen, Büsche und Bäume, übernahm alle Hausmeisterarbeiten und wartete im übrigen ungeduldig auf den Tod der reizenden Tanten. Nur – die alten Damen
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