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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Energietürme der Darrieus-Rotoren in die Höhe: Windturbinen mit vertikal angebrachten Rotorblättern, die die Auftriebskräfte des Windes nutzen konnten. Sie sahen wie gigantische, kopfstehende Schneebesen aus.
    Jaumann dämpfte die Lichtgardine des Küchenfensters und sah hinunter auf den Innenhof. Da kam es. Er hatte es erwartet. Das Kind.
    Das Kind war vier oder fünf Jahre alt und es gehörte den Sobrowskys vom Haus gegenüber. Es hatte blondes, kurzgeschnittenes Haar. Es war ein stilles Kind.
    Aber, dachte Jaumann, das beweist nichts. Schließlich ist es das einzige Kind in der ganzen Straße. Ihm bleibt keine andere Wahl als still zu sein.
    Das Kind trug Stiefel. Thermaloverall und einen Anti-Schmutz-Anorak, grün wie der wachstumsgehemmte Zuchtrasen, der die eine Hälfte des Hofes einnahm. Auf der anderen Hälfte – weitab von den Bänken und Tischen, an denen sich bei schönem Wetter die Senioren der angrenzenden Häuser versammelten und die welke, runzlige Haut der Wärme der Sonne aussetzten – stand wie ein Fossil die Kunststoffrutsche neben einem plastikumrandeten Sandkasten von der Größe einer Besenkammer. Der Sandkasten war abgedeckt, die Abdeckung zugeschraubt.
    »Es ist schön, in einem Haus zu wohnen, das ein Herz für Kinder hat«, murmelte Jaumann.
    Im Wohnzimmer mäßigte sich das Dröhnen der TV-Wand. »Was hast du gesagt?« rief Katrin durch die halb geöffnete Tür.
    »Das Kind.« Jaumann hob seine Stimme. »Das Kind ist wieder da.«
    Er sah aus dem Fenster.
    Das Kind hatte sich der Rutschbahn auf halbem Weg genähert. Es hätte die Abkürzung über den Rasen nehmen können, aber es war zu klug, dieses Risiko einzugehen. Jaumann lächelte schmal. Ja, es hatte dazugelernt. Es war ein raffiniertes kleines Luder … Er hörte Schritte. Dann blies ihm Katrin ihren warmen Pfefferminzliköratem in den Nacken.
    »Das gefällt mir nicht – diese Hartnäckigkeit«, zischte Katrin. »Das gefällt mir nicht. Dieses Kind ist mir unheimlich.«
    Jaumann starrte nach draußen, schüttelte den Kopf. »Ich möchte wissen, warum sie nicht am Stadtrand geblieben sind. Bei den anderen.« Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Da gibt es Leute, die haben sogar drei Kinder.«
    »Kinder, die so hartnäckig sind«, sagte Katrin, »können gar nicht anders. Solche Kinder werden automatisch zu Juniacs. Es liegt ihnen im Blut. Es gefällt ihnen, alte Leute zu quälen.«
    Jaumann dämpfte die Lichtgardine um weitere fünfzig Watt, um besser sehen zu können. »Einfach verantwortungslos. Ich möchte wissen, was sich die Eltern dabei gedacht haben. Zum Teufel, warum sind sie nicht am Stadtrand geblieben? Warum hat man sie überhaupt hier einziehen lassen? Sie stören hier nur.«
    »Kleine Kinder und alte Leute«, sagte Katrin. »Dafür arbeiten wir. Um den einen die Rente und den anderen das Kindergeld zu finanzieren.«
    Jaumann schwieg. Das Kind hatte inzwischen die Rutschbahn erreicht. Es blieb stehen, klein und grasgrün, und Jaumann fragte sich plötzlich, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Im Sommer, dachte er. Im Sommer werden wir es erfahren. Dann werden wir sehen, ob es Röcke oder Hosen trägt. Aber vielleicht wohnen die Sobrowsky im Sommer gar nicht mehr hier.
    Der Kopf des Kindes, halb von der Anorakkapuze verborgen, drehte sich forschend hin und her. Es schien die Fenster zu beobachten, die gleißenden Rechtecke der Lichtgardinen. Als es nichts sah, hob es einen Fuß. Der Fuß näherte sich der untersten Leitersprosse der Rutschbahn.
    »Jetzt«, sagte Jaumann. Er hielt den Atem an. Er wußte, was geschehen würde, und dann geschah es.
    Im gegenüberliegenden Haus, im dritten, im vierten, im fünften Stock, erloschen die Lichtgardinen und die Fenster wurden aufgerissen. Wie zornige, graue Krähen streckten die Rentner die Köpfe hinaus. Weitere Gardinen erloschen, weitere Fenster öffneten sich, weitere Krähen reckten die Köpfe. Kalt starrten ihre Knopfaugen in die Tiefe, auf das Kind.
    Das Kind bewegte sich nicht. Es stand da, den Fuß noch immer erhoben, erstarrt unter den Krähenblicken. Die alten Köpfe wackelten hin und her. Sie verständigten sich stumm. Die Drohung wuchs.
    »Sie haben darauf gewartet«, flüsterte Katrin. Jaumann sah, daß ihre Wangen glühten. Ihr Flüstern klang heiser. Erregt. »Sie haben auf diesen Moment gewartet. Sie hassen das Kind.«
    »Sie hätten am Stadtrand bleiben sollen«, wiederholte Jaumann, »die Sobrowskys. Sie müssen verrückt sein.«
    In dieser

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