Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
dort unten?“ Jolina spähte über den Rand und beäugte ihr Spiegelbild. Aus ihrem Haarknoten hatten sich Strähnen gelöst, ihre Wangen wirkten rosiger als sonst und das Schwarz ihrer Bluse brachte ihre blutfarbenen Wimpern noch stärker zur Geltung. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet und zuckte zurück.
Er schnaufte. „Wenn das jemand wüsste, würde es bedeuten, man könnte den Tiefen entkommen. Aber es weiß niemand.“
Jolina überkam eine Gänsehaut. „War das schon immer so? In diesem See?“
„Nein.“ Der Sator beendete seinen Zug, holte die Ruder ein und stützte sich auf seine Oberschenkel. „Unser guter alter König hat nicht nur dafür gesorgt, dass die Satoren hier auf dieser Seite bleiben können … Bevor er sich mit Marduk auf diesen Handel einließ, züchtete er ein Heer. Und da man Frauen als Soldaten nicht gebrauchen konnte, wurden alle weiblichen Neugeborenen in diesen See geworfen.“ Er deutete mit dem Kopf auf die Klippen links von ihnen.
Die Halbgöttin bedeckte ihren Mund mit den Händen, unfähig etwas zu erwidern.
„Tja, und seitdem verschwinden hier immer wieder Leute.“
„Aber wozu sollte dieses Heer denn gut sein?“, fragte sie erschüttert.
„Der König glaubte, er bräuchte mehr Überzeugungskraft was Marduk angeht. Er dachte, wenn er ihm mit einem tausendköpfigen Heer drohen würde, hätte er leichtes Spiel. Im Endeffekt war das alles gar nicht nötig gewesen, weil der Göttervater schon selbst erkannte, wen er da als Gegner vor sich hatte.“
„Und der König?“
„Als es beschlossene Sache war und wir unseren festen Platz hier hatten, wurde er gestürzt. Von seinem eigenen Heer. Und in den See geworfen.“ Daman lächelte. „Er war der erste, den es erwischt hat.“
Jolina schluckte. „Kannst du bitte weiterrudern?“
Der Sator schob die Paddel zurück ins Wasser. „Das sind nur Geschichten“, beteuerte er und brachte das Boot wieder in Bewegung. „Laut meiner Mutter sind sie wahr. Aber wer weiß das schon? Könnte genauso gut ein zu groß geratener Karpfen sein, der hier alles und jeden verschluckt.“
„Du machst es damit nicht wirklich besser.“ Sie schlang sich die Arme um den Körper und betrachtete das vorbeiziehende Wasser. „Wer ist jetzt euer König?“
„Ein anderer.“
„Ist er … besser?“
„Glaub schon. Zumindest verehrt ihn das Volk. Du wirst ihn so oder so kennenlernen und dir deine eigene Meinung bilden können.“
„Warum das?“
„Weil du ein Mitbringsel bist, das ich anmelden muss, mein Mädchen.“
Sie merkte, wie sich ihre Stirn in Falten legte.
„Ja! Bei uns herrscht Zucht und Ordnung. Hast du etwa gedacht, Satoren würden nur ums Feuer tanzen und wie Neandertaler hausen?“
„Natürlich nicht!“, antwortete sie entrüstet und zu tief beschämt über sich selbst. Er hatte nämlich recht.
Kapitel 21
Elín zog die Zimmerkarte durch den Türschlitz, drückte die Klinke nach unten und öffnete die weiße Holztür. Hinter ihr wartete Ju darauf, dass sie die Suite betrat. Ein eigenartiges Kribbeln bildete sich in ihrem Bauch. Vorfreude? Aufregung? Sie wusste es nicht. Aber die Vorstellung, sieben Stunden mit dem Akkadier in einem Zimmer festzustecken, beunruhigte sie auf angenehme Art und Weise.
Als sie im ‚Hótel Borg‘ angekommen waren, schien der Concierge sofort gewusst zu haben, welche Reservierung er vor sich hatte. Roven hatte unter Jasons Namen eingecheckt und eine schwarze Kreditkarte gezückt, die wohl ebenfalls auf den Jungen lief. Die Suiten kosteten jeweils tausendfünfhundert Dollar die Nacht, das Dreifache des üblichen Preises. Warum, wusste Elín nicht. Wollte sie auch gar nicht wissen. Das waren Geldbeträge, mit denen sie normalerweise nichts zu tun hatte.
Das Hotel selbst strahlte eine zeitlose Eleganz aus. Schon im Eingangsbereich wechselten sich schwarze und cremefarbene Ledersessel ab. Die Wände waren allesamt in einem kühlen Dunkelbraun gestrichen. Die Rezeption bestand aus gelacktem Holz.
Elín betätigte den Lichtschalter. An verschiedenen Punkten des Raumes flammten warme Lampen auf und vertrieben das Halbdunkel des Vormittags. Der Fußboden bestand aus Eichenparkett, die Wände in mittlerem Braun wurden durch cremefarbene Vorhänge geteilt. Links stand ein riesiges Lederbett mit heller Wäsche und einer dunklen Tagesdecke darüber. Geradeaus befand sich ein Schreibtisch aus dem gleichen dunklen Holz wie das der Rezeption, davor ein cremefarbener Stuhl. Weiter rechts gab
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