Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
verschaffte sich einen schnellen Überblick. Roven und Selene kämpften abseits. In jedem Fall konnte Elín sich nützlich machen.
„Okay“, flüsterte sie zu sich selbst. „Du hattest Hunger, also friss!“
Innerhalb eines atemlosen Wimpernschlags wurde Elín in den Hintergrund ihres Verstandes gestoßen. Vor ihren Augen knallte ein Gitter zu. Ihre Bestie übernahm und ließ sie in die schwarze Meute hineinspringen. Und Elín sah amüsiert dabei zu, als geschiehe alles in Zeitlupe, summte gedanklich die Melodie von ‚Mr. Sandman‘ und lehnte sich entspannt zurück.
Mit gebleckten Fängen stürzte sie auf den Hals eines Taryk und riss seine Kehle entzwei. Der bittere Geschmack auf ihrer Zunge verpuffte zusammen mit dem Rest seines Körpers zu Rauch. Ihre Krallen zerfetzten die Hälse von drei Seelenreißern. Es regnete goldene Menschenseelen. Irgendwie zerteilten sich die dunklen Leiber vor Elíns Augen schon fast wie von allein, fielen selbstständig in sich zusammen. Waffen nahm sie keine wahr. Abgetrennte Gliedmaßen flogen über ihren Kopf hinweg. Sie drehte sich, sprang einen Gegner nach dem anderen an. Kurz tauchte Jus erschrockenes Gesicht in Elíns Blickfeld auf, doch Nahams Wut galt den Taryk.
Braves Mädchen!
Der Kampf fühlte sich für sie nicht mehr wie einer an. Dieser Tunnel glich einem Spielplatz und Elín musste so viele Stofftiere wie möglich in einer Minute zerreißen. Kinderleicht.
Sie hörte irgendwann bei fünfzig auf zu zählen. Nur der dichte Nebel vor ihren Augen verriet, dass immer mehr Seelenreißer das Duell gegen sie verloren. Und erst viel später, als gerade zufällig keiner in ihren Fängen oder Klauen landete, verzog sich Naham gesättigt ins Innere und ließ Elín wieder frei.
Sie blickte durch ihre eigenen Augen und sah nichts als dichten, schwarzen Qualm. Doch in der Ferne kämpfte noch jemand. Waffen schlugen aneinander. Die Flut von Taryk ebbte nicht ab.
„Ju?“
„Du bist in Ordnung?“, fragte er prüfend, ohne dass sie ihn sehen konnte.
„Ja?“
„Prima.“ Krach von klirrendem Metall ertönte. „Hast du fein gemacht!“ Ein Lachen folgte seinen Worten, während die Klinge fortwährend gegen die seiner Feinde schepperte.
Sie nickte sich selbst zu und betrachtete unbekannte Schnittwunden an Armen und Beinen, aus denen goldenes Blut sickerte. Nicht weiter schlimm. Nur mitbekommen hatte sie nichts davon.
Plötzlich rannte Selene an ihr vorbei und verschwand in einem Seitenkanal.
Rovens tiefe Stimme erklang zwischen den Grunzlauten sterbender Taryk. „Selene?“
„Die ist grad nicht hier“, stellte Elín verwundert fest.
Er fluchte und kämpfte hörbar weiter. „Du musst ihr folgen!“, rief er. „Elín. Bitte, lass sie nicht allein mit ihm!“
„Ähh. Okay, ist gut!“
Die Akkadia machte kehrt und rannte in den flachen Schacht hinein, versuchte die Dunkelheit trotz der gebückten Haltung so schnell wie möglich zu überwinden. „Selene!“ Elíns Stimme schallte durch das Rohr und kehrte doppelt so laut an ihre eigenen Ohren zurück.
Ein grünes Licht bildete sich in der Ferne und irritierte sie. Doch Elín behielt ihr Tempo bei.
„Selene!“ Keine Antwort.
Sie stolperte und fing sich, rannte weiter und kam dem Ende näher.
Erst als ein fauliger Gestank ihr den Atem raubte, verlangsamten sich die Schritte der Akkadia. Sie stieß ein angewidertes Stöhnen aus. Es roch, als hätte man eine Wasserleiche in schwefelhaltige Zuckerwatte eingewickelt. Elín hielt sich die Nase zu und näherte sich der Öffnung des Schachtes.
Und was auch immer den Abwasserkanälen der Welt nachgesagt wurde – Alligatoren, versunkene Städte oder riesige Goldfische, die eine Toilettenspülung überlebt hatten – der Inhalt der vor ihr liegenden Halle übertraf ihre schlimmsten Alpträume. Die Szenerie hätte einem Science-Fiction Film entsprungen sein können und wirkte so entsetzlich, dass sich Elíns Verstand schlichtweg weigerte, das als Realität anzuerkennen.
Wie Schimmel, wie Fäulnis, wie Verwesungsblasen wuchsen Tausende von Eiern aus Wänden und Decke in den Raum hinein. In einer Farbmischung aus Schwarz und Grün pulsierte die Masse in einem einheitlichen Rhythmus, als besäßen alle denselben Herzschlag. Schwerer Dunst kroch über die Brut hinweg und verdeckte doch zu wenig von der feuchten Oberfläche, die immer wieder aufplatzte und schmatzende Geräusch von sich gab. Die einzige Möglichkeit hindurch zu gelangen, bildete ein schmaler Pflasterweg
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