Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
bezwingen. Wollte siegen und besitzen!
Sie stand auf und stellte sich dem Ungetüm breitbeinig und mit geballten Fäusten gegenüber.
„Komm doch! Wenn du dich traust!“, hörte Elín sich sagen.
Mit fremdem Mut im Herzen wollte sie plötzlich die ganze Welt erobern.
Der Löwe brüllte in den Himmel und rannte mit gewaltigen Sätzen auf sie zu. Elín tat es ihm gleich. Was auch immer geschehen mochte, wenn sie zusammenprallten, spielte keine Rolle mehr.
Sie sprang in die Luft.
Das Ungetüm folgte ihr.
Und mit einem donnernden Aufprall krachte Elín der Bestie in die Arme und fiel zusammen mit ihr zu Boden.
Vorbei war die Kampfeslust. Ihr Mut verschwand, stattdessen kehrte Reue ein.
„Es tut mir leid!“, flüsterte sie in die weiche Mähne des Tieres, mit dem sie sich plötzlich so verbunden fühlte. „Entschuldige!“ Elín schlang ihre Arme fester um den riesigen Körper, spürte sich selbst darin wieder. Die Bestie schnaufte. „Ich liebe dich!“, antwortete Elín. „Du gehörst zu mir!“ Die Erkenntnis nahm ihr fast die Luft – so einleuchtend, gleichzeitig so erschreckend. Sie herzte und drückte den Löwen, als wäre es Vinkona, als wäre es ihre beste Freundin.
Und das Tier begann zu schnurren und legte die samtigen Pfoten auf Elíns Rücken.
So lagen sie im Schnee.
Vereint für immer.
Elín hatte sich gefunden.
Sie öffnete die Augen und schaute in Jolinas Gesicht.
„Ich fühle sie!“, stieß sie aus und schlug die Hände gegen ihre Brust. „Sie ist in mir!“
„Ja“, lächelte Jolina. „Ihr seid eins – zwei Seelen in einem Körper.“
Naham streckte sich in ihrem Inneren und grunzte zufrieden. Wie hatte Elín sie nicht spüren können? Wo ihr Seelenband doch so deutlich in ihr leuchtete – die Verbindung zwischen ihrer Seele und der der Bestie, ihrer Bestie. Mit solcher Kraft und dem Willen einen Kriegers brachte sie Elíns Körper wieder zum Leben, durchströmte sie mit einer Intensität, die sie früher nur auf Vinkonas Rücken verspürt hatte.
Freiheit!
Unendliche Freiheit!
Das war es, was ihr jetzt endlich auffiel. Was sie fühlte und wonach sie sich sehnte. Was sie schon ihr ganzes Leben lang vermisst hatte.
Jolina strahlte über beide golden glitzernden Wangen. „Das wollte ich sehen“, sagte sie. „Genau diesen Gesichtsausdruck. Diese Erkenntnis und dieses Glück!“
„Wie konnte ich all das vergessen haben?“
Die Lippen der Halbgöttin wurden zu einem Strich. „Der Schock saß zu tief, denke ich. Dadurch, dass der Ahn, der dich wandelte, dir weder eine Wahl ließ noch dich in irgendeiner Art und Weise über dein Leben informierte, warst du unfähig, diese Veränderung zu akzeptieren. Du hast dich innerlich gegen Naham gewehrt, hast sie so gekonnt unterdrückt, dass sie kaum eine Chance hatte, sich bemerkbar zu machen.“ Jolina legte Elín die rechte Hand auf ihr Herz. „Fühle sie. Verbünde dich mit ihr und lerne von ihrer Weisheit. Sie kann dir alles zeigen, was du für dein Leben als Akkadia benötigst. Sie ist deine Mutter, deine Schwester, deine beste Freundin und dein Herz. Dein Instinkt. Und für alles, was noch kommen mag, und was du jetzt nicht verstehst, wurde dir bereits ein erfahrener Krieger zur Seite gestellt.“
„Ju?“
Die Halbgöttin nickte. „Mehr, als auf dein Herz zu hören, verlangt es nicht, um Glück zu finden.“
Sie legte beide Hände an Elíns Wangen und küsste ihre Stirn.
Thanju zog seine Sachen an und teleportierte sich nach Avenstone, ins schottische Anwesen von Roven McRae und seiner frisch gewandelten Gefährtin Selene.
Schon bevor er vollkommen Gestalt angenommen hatte, bereute er diesen Sprung. Er brauchte Abstand zu Elín, ertrug ihr Mitleid nicht. Ertrug ihre Nähe und ihre ganze Zuneigung nicht. Was zum Teufel hatte er sich dabei gedacht, sie zu küssen?
In der Eingangshalle der schottischen Burg brannte warmes Licht. Nur Sekunden nachdem Ju Rovens Seelenband auf die kurze Entfernung wahrgenommen hatte, kam dieser mit einem Lächeln die breite Treppe hinunter.
„Das fasse ich jawohl nicht!“, begrüßte er ihn. „Ju, Alter! Dass ich dich noch mal hier sehe.“
Roven strich sich das weißblonde Haar aus dem Gesicht und klopfte ihm auf die Schulter, als er unten angekommen war.
Ju bekam kein Wort heraus.
Was hatte er sich davon erhofft, hierher zu kommen? Wo er doch allen anderen die Schuld an Diriris Tod gegeben hatte. Allen Akkadiern, die der Schlacht in Island beigewohnt hatten. Selbst Selene,
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