Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
kahlköpfige Mann stürzte ihr entgegen, sichtlich erbost über den Angriff. Und als hätte die Akkadia es schon hunderte Male getan, wich sie dem riesenhaften Monstrum mit Leichtigkeit aus, sprang einfach drüber hinweg, drehte sich im Flug und stemmte die Stiefel krachend in den Rücken ihres Gegners.
„Elín! Verschwinde da!“, hörte sie eine entfernt vertraute Stimme, keine, der sie Beachtung schenkte. Nicht jetzt. Jetzt gab es nur sie und den Feind.
Doch plötzlich schob sich ein Verbündeter in ihr Sichtfeld und nahm ihr die Angriffsposition. Sie sprang zur Seite, bereit den Akkadier im Kampf zu unterstützen. Aber ihr Gegner verschwand, bevor sie ihn erwischen konnte, löste sich in stinkenden schwarzen Rauch auf, bis nichts mehr von ihm übrig blieb.
Elín vernahm ein animalisches Knurren aus ihrer eigenen Kehle und eine Wut, die ihr dieselbige sogleich zuschnürte.
Verloren!
Versagt!
Sie hatte einen Gegner entkommenlassen!
Unwürdig!
Die Scham drückte sie tiefer in ihren Körper zurück, verdrängte ihr Bewusstsein von der Oberfläche und ließ ein anderes nach vorn. Überall um sie herum strahlte Naham mit einer Kraft, die Elín den Atem raubte. Sie war doch ihre Verbündete! Warum nur fühlte Elín sich dann so verloren und überfordert? Warum wollte der Löwe ihren Körper übernehmen?
„Elín? Sieh mich an!“
Jus angsterfülltes Antlitz erschien in ihrem blendend hellen Sichtfeld. Er legte seine warmen Hände an die Wangen der Bestie, eine Berührung, die Elín wieder nach vorn lockte und die Wut dämpfte. Sie knurrte erneut, und dieses Mal wurde Nahams Laut von Jus harten Lippen verschluckt.
Alles, was sie brauchte.
Alles, was sie wollte.
Eine Liebkosung, mit der er allein sie zurückholen und besänftigen konnte.
Elín öffnete die Augen. Er hatte seine geschlossen und küsste sie noch immer. Und sie beobachtete ihn, fasziniert und mit wachsender Begierde.
Obwohl Thanju ihr in jeder Notsituation so bereitwillig half, gestand er sich noch immer nicht ein, etwas für sie zu empfinden. Auch wenn ihr Innerstes danach schrie, von ihm vollends in Besitz genommen zu werden – sich geradezu nach ihm verzehrte, nach jeder Berührung, jedem Kuss, jedem Blick – würde sie sich ihm nicht an den Hals werfen. Nicht noch einmal. Er würde schon selbst erkennen müssen, was er brauchte.
Elín, wieder ganz sie selbst, legte ihre Hände auf seine und begegneten den schwarzen Augen ihres Akkadiers. Sie rechnete damit, dass er sofort zurückweichen würde. Aber das tat er nicht. Ju zog ihren Kopf an seine Brust und hielt sie fest, die langen Arme dicht um ihren Körper geschlungen.
„Du hast ja keine Ahnung, wem du da eben gegenübergetreten bist“, murmelte er mit ungewohnt dünner Stimme in ihr Haar.
„Alles gut!“ Sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte. Immerhin hatte sie sich kein bisschen unterlegen gefühlt. Und trotzdem hätte nichts das Kind in ihrem Inneren besser beruhigen können als die Umarmung, die er ihr gerade schenkte. „Danke“, murmelte Elín und löste sich von ihm. „Was war denn eigentlich in der Höhle?“
Ju holte Luft und sah in die Richtung, aus der er zu ihr zurückgekommen war. „Nichts. Jedenfalls nichts mehr, als ich dort ankam. Jemand hat die Plastikbecher mit Blut gestohlen.“
„Plastik…? Ähh, na, darauf wär ich eh nicht scharf gewesen.“
„Du brauchst Blut, Elín!“, mahnte er und sah sie an. „Sonst wirst du beim nächsten Kampf womöglich nicht mehr die Stärkere sein.“
„Mhm“, grummelte Elín. „Aber wer zu Teufel sollte unser Blut stehlen?“ Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie hob den Zeigefinger und rief: „Natürlich. Doch ein Eisbär!“
Ju verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich denke, es war das Halbblut, das dich gerade angegriffen hat.“
„Halbblut? Wie ein Pferd sah der Gute aber nicht aus!“
Der Akkadier ihr gegenüber musterte sie grimmig. „Hast du eigentlich ständig nur Pferde im Kopf?“
„Nein“, überlegte Elín. „Aber alles andere, worauf man reiten könnte, ziert sich momentan.“
Ju biss die Zähne aufeinander und ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei und zog einen Duft hinter sich her, den sie zum ersten Mal wahrnahm – irgendwie orientalisch, leicht süßlich, ein bisschen herb und scharf. Ja, dachte sie schmunzelnd, scharf auf jeden Fall.
Sie folgte ihm unaufgefordert und er erzählte ihr die Geschichte von Danica – einer Akkadia, die im vorletzten Jahrhundert von
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