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Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)

Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)

Titel: Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordan Bay
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es kam nichts. Nur gurgelnde Laute stiegen aus ihrer Kehle, bevor sie ihr eigenes Blut schmeckte. Unmengen davon. Sie verkrampfte so heftig, dass sie hilflos und starr zur Seite kippte, und dankte den Göttern, als ihre Sicht und ihr gemarterter Körper endlich die Dunkelheit fanden.
    Und als sie weder etwas sah, wahrnahm, roch, noch spürte, schnellten unbekannte Bilder durch ihren Kopf. Es waren Bilder eines fremden Volkes, einer fremden Zeit, Bilder von Krieg, Verlust und Zerstörung. Es mussten Erinnerungen sein, doch nicht ihre eigenen. Nichts von alledem, was sie hier erlebte, entstammte ihrem eigenen Leben, und trotzdem fühlte sich alles echt an.
    Die Bilder wurden langsamer, zogen gemächlicher vor ihrem geistigen Auge vorbei und blieben schließlich stehen. Die Szene zeigte einen asiatischen Jungen in teuren Gewändern, der mit herausgestreckter Zunge und konzentriertem Blick über einer Schreibarbeit saß.
    Das Bild rief Gefühle in Elín wach – Liebe, Fürsorge und … Schuld. Sie hatte ihn allein gelassen. Hatte ihn seinem Schicksal überlassen. Hatte zu verantworten, was nach ihrem Tod mit ihm geschehen war.
    Sie streckte die fremde Hand aus, wollte ihren Sohn berühren, wollte ihn ein letztes Mal in die Arme schließen. Doch das Bild löste sich auf und Elín selbst wurde wieder wach. Fand sich plötzlich auf einem Berg wieder und wusste, dass Jahre vergangen waren. Schmerzen gab es nicht mehr, zumindest nicht körperlich. Elín sah an dem fremden Körper hinab. Er war größer als ihr eigener, breiter und in die gleichen königlichen Gewänder gehüllt wie die ihres Sohnes, nur dass diese hier abgetragen und blass wirkten. Sie tastete nach ihrem Gesicht – markant und eindeutig männlich. Und der einzelne Zopf an ihrem Hinterkopf verriet, wessen Erinnerungen sie gerade erlebte.
    Wenn Ju wirklich auf diese Art und Weise zu Tode gekommen war, musste Elín dafür dankbar sein, dass sie selbst bewusstlos im Schnee hatte einschlafen dürfen. Nicht auszudenken, wie sich dieses Martyrium angefühlt haben muss. Elín erschauderte. Warum nur hatte man ihm das angetan?
    Sie drehte sich um und sah in die Ferne. Der Gipfel, auf dem sie sich befand, war einer der höchsten in dieser Gegend. Es musste Asien sein, obwohl Elín nie zuvor eine solche Aussicht genossen hatte. Ihre Füße steckten in tiefem Schnee, doch sie fror nicht. Die Sterne über ihr wirkten so nah, als könnte man sie wie Blumen vom Himmel pflücken. Und in der Ferne, etwas weiter unten, leuchtete eine Provinz mit tausend Fackeln in die Nacht hinaus.
    Dorthin wollte sie.
    Sie würde ihren Sohn besuchen, wie sie es jede Nacht während der letzten vier Jahre getan hatte, natürlich nur aus dem Verborgenen heraus.
    Elín rutschte den verschneiten Abgang hinunter und folgte dem Pfad nach Jiyin.
    In den ersten drei Jahren nach Thanjus Tod hatte sein Sohn Li Zhu dem Kanzler Zhu Wen als Kaiser Chinas gedient – eine Schattenherrschaft, in die er mit dreizehn Jahren erhoben worden war, um den Machenschaften des Kanzlers neue Möglichkeiten zu offenbaren. Doch nach diesen drei Jahren hatte Zhu Wen ihn zum Prinzen Jiyins degradiert – in einem Staatsstreich, wodurch die Tang-Dynastie ihr Ende gefunden hatte. Das aber spielte für einen Akkadier keine Rolle mehr. Hauptsache, Li Zhu war in Sicherheit. Und Jiyin war eine ruhige Provinz, in der er sich eine Frau suchen würde, Kinder zeugen könnte und ein wesentlich angenehmeres Leben führen würde, als es Ju einst vergönnt gewesen war.
    Li Zhu hatte den Tod seines Vaters nicht gut verkraftet. Doch die Angst, dass er Zhu Wens Machthunger ebenfalls zum Opfer fiel, hatte sich, der Göttin sei Dank, nicht bestätigt. Die größte Sorge, die Ju in den letzten Minuten seines menschlichen Lebens verspürt hatte, war nicht eingetroffen. Und das tröstete ihn auch über den Kummer hinweg, mit Li Zhu nicht sprechen zu dürfen. Für ihn war Thanju tot. Das hatte sein Sohn mit mittlerweile siebzehn Jahren überwunden, hoffte Elín.
    Sie erreichte den Mischwald, der die Provinz umgab, und näherte sich den Außenmauern. Eigenartig, obwohl sie so genaue Details von Jus Tod kannte, wusste sie weder, wo genau Jiyin lag, noch welche Jahreszeit gerade vorherrschte. Sie wusste nicht, wie Ju zum Akkadier geworden war und auch nicht, was er sonst noch in den vergangenen Jahren getan hatte. Wahrscheinlich konzentrierten sich seine Erinnerungen auf genau das hier, auf das, was Elín jetzt erlebte.
    Ein Schrei drang an ihre

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