Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
Ohren und ließ ihr Herz zu Eis gefrieren.
Noch bevor sie darüber nachdenken konnte, hatte sie die letzten Kilometer bis zur äußeren Grenze zurückgelegt und sprang mit Anlauf nach oben. Elín landete auf der Mauer, rannte auf das nächst gelegene Hausdach zu und hechtete von einem zu anderen, kam dem Palast in der Mitte der Siedlung immer näher – dem Ort, wo der Schrei seinen Ursprung gefunden hatte.
Es ist nichts passiert, redete sie sich ein und wollte die Panik ignorieren. Alles ist in Ordnung.
Mit einem letzten Sprung überwand sie den Abgrund zum offenen Balkon des Prinzen und blieb erstarrt vor den wehenden Vorhängen zu seinen Privaträumen stehen.
Dort lag jemand. Auf dem Boden.
Nein!
Elín spürte, wie Jus Beine sie langsam durch den Vorhang trugen. Sie wollte nicht dorthin, wusste, was geschehen war. Sie wollte es nicht sehen. Wollte es nicht fühlen.
Jus siebzehnjähriger Sohn zitterte am ganzen Körper. Aus seinem Mund troff gelblicher Speichel. Er hatte die Augen angsterfüllt aufgerissen und starrte an die Decke – voller Unglauben. Neben seinem schlanken Leib lagen Besteck, Teller und Becher seines Abendmahls auf dem Boden verteilt. Beim Sturz hatte er alles mit heruntergerissen.
Li Zhu drehte seinen Kopf zuckend in Elíns Richtung und bewegte den Mund, ohne einen Laut zu erzeugen. Schwerfällig ging sie auf ihn zu.
„Vater?“, keuchte er schließlich.
Mit einem entsetzten Trommeln in der Brust kniete sich Elín neben ihn und zog seinen krampfenden Oberkörper auf ihren Schoß.
„Du … lebst?“, stammelte ihr Sohn und versuchte zwischen gurgelnden Lauten Luft zu bekommen.
Sie schüttelte den Kopf, war unfähig, etwas zu sagen. Ju wusste, dass es zu spät war, ihm zu helfen. Er wusste, dass er nur noch hier war, damit Li Zhu nicht allein verenden musste. „Ich komme, … um dich zu begleiten“, hörte Elín seine heisere Stimme.
Aus den schönen dunklen Augen ihres Sohnes rannen warme Tränen durch ihre Hand, während er keuchend nach Atem rang. Sie starrte in das Entsetzen, das sein Gesicht zu einer Maske des Todes verzerrte, streichelte seine schweißnasse Wange und fühlte ihre eigenen Augen brennen. Seine Hände klammerten sich in den Stoff ihres Gewandes. In diesem Moment verschwand der Stolz des jungen Mannes. Mit fürchterlicher Angst blickte er zu seinem Vater hoch. Mit der verzweifelten Hoffnung, Ju könnte ihn retten.
„Warum …?“
Warum hatte man ihn vergiftet?
„Es ist nicht deine Schuld, mein Sohn! Alles wird gut.“
Li Zhu langte nach seinem Bauch und klagte schmerzerfüllt. Und es zerriss Elín das Herz.
„Es ist gleich geschafft!“ Jus Stimme brach in ihrer Kehle, während die Bewegungen ihres Sohnes immer schwächer wurden. „Gleich bist du bei mir“, log sie.
Der junge Prinz stöhnte ein letztes Mal. Dann kehrte Ruhe in die weiten Augen ein. Seine Gesichtszüge entspannten sich, es wurde still. Die schlanken Hände ließen ihr Gewand los und sackten auf den Boden. Sein Herz gab keinen Laut mehr von sich.
Ju hatte seinen Sohn ans Himmelreich verloren.
Und Elín starrte auf die reglosen Augen, spürte wie ein tiefer kehliger Laut in ihr aufstieg. Sie zerrte den schlanken Körper panisch an sich – und schrie.
Unsicher beobachtete Selene, wie Tränen aus Elíns geschlossenen Lidern drangen und an ihren Wangen hinunter kullerten. Sie nahm ein Taschentuch zur Hand und trocknete sie.
„Elín? Kannst du mich hören?“ Doch die junge Akkadia reagierte nicht.
Nachdem Selene davon erfahren hatte, dass Ju mit dieser Isländerin hier aufgetaucht war, hatte sie Elín sofort kennenlernen wollen. Aber sie schlief. Aus irgendeinem Grund. War vielleicht zu erschöpft von allem, was ihr passiert war.
Auf dem Nachttisch stand ein Glas mit warmem Schweineblut. Selene hatte gehofft, die Akkadia mit diesem Geruch wecken zu können. Aber weit gefehlt. Dass sie so erledigt war, konnte man ihr nicht verübeln. Selene musste an ihre eigenen ersten Momente als Akkadia zurückdenken, erst gute zwei Monate her. Nicht nur ihr Körper hatte sich fremd angefühlt, sondern auch alles, was sie als Mensch einst erlebt hatte – ihre Erinnerungen, unwirklich, fern. Für Elín musste das nicht anders sein, mit dem Unterschied, dass sie niemanden besaß, der ihr Halt gab.
Selene lächelte, während sie das bildschöne Gesicht der Isländerin betrachtete. Sie war so jung. Und sie würde es ewig bleiben. Hoffentlich wusste sie das auch zu schätzen.
Mit einem Ruck
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