Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
er ihr gemeinsames Zimmer und ging den langen Flur entlang, vorbei an den restlichen Wohnräumen, die wie immer leer standen. Doch seine entspannte Haltung versteifte sich, als er ein bekanntes Flackern vernahm – mindestens ein Seelenband summte im Erdgeschoss.
Ein Akkadier.
In seinem Heim.
Unangemeldet – schon wieder.
Roven überwand die letzten Meter zur großen Freitreppe und hoffte, dass es sich bei dem Besucher um Ju handelte. Seit drei Monaten wussten mehrere seiner unsterblichen Brüder, wo genau Rovens Heim lag. Avenstone hatte zur damaligen Schlacht in Island als Basis gedient. Zu den Akkadiern, die aus der ganzen Welt eingerückt waren, hatte unter anderem jemand gehört, dem Roven nicht vertraute. Deswegen machte ihn ein drittes Seelenband immer nervös. Auch wenn Selene mittlerweile eine Akkadia war, die auf sich selbst aufpassen konnte, würde er diesen tief sitzenden Beschützerinstinkt nicht mehr ablegen können.
Doch was der Unsterbliche sah, als er über die Brüstung der Treppe blickte, entsprach so gar keiner Bedrohung für sein Heim und seine Familie. Im Gegenteil – das Bild amüsierte ihn.
Der Mönch, der ihm im letzten Jahr noch Vorträge über Selbstbeherrschung und Pflichtgefühl gehalten hatte, lag mit nacktem Oberkörper ausgestreckt auf dem Rücken. Sein riesiger Körper verdeckte das farbenprächtige Mosaik der Göttin Ishtar, das im Holzboden vor der Treppe eingearbeitet war, und hielt ein zierliches, blondes Geschöpf in den Armen.
Elín, vermutete Roven.
„Ju, mein Alter, ich habe mich gebunden. Du brauchst mir keine Jungfrauen mehr opfern“, grinste er und trottete die Stufen gemütlich hinunter.
Sein Dalan antwortete mit einem grimmigen Blick. Zumindest schien Thanju nicht mehr derart aus der Fassung zu sein wie noch vor kurzem. Er richtete sich vorsichtig auf und hob die junge Isländerin mit hoch.
„Alles okay mit ihr?“, hakte Roven nach.
„Ja, denke schon. Ich habe ihr wohl einen ordentlichen Schrecken eingejagt, als mich der Gewehrhagel niedergerafft hat.“
Der Schotte musterte sein Gegenüber mit Verwunderung – für einen Gewehrhagel sah er eigentlich ganz gut aus.
„Frag mich nicht“, entgegnete Ju auf seinen Blick. „So schnell, wie Naham mein Herz zusammengeflickt hatte –“ Er brach ab und schüttelte den Kopf, wirkte von der ganzen Sache wenig überzeugt.
Roven hatte keine Ahnung, was genau vorgefallen war, aber das würde er herausfinden. Hauptsache, die zwei hier waren in Sicherheit. „Ihr bleibt doch erst mal, oder?“
„Erst mal.“
„Dein Zimmer vom letzten Mal ist noch hergerichtet“, sagte Roven mit einem Kopfnicken auf das erste von zwei Obergeschossen der Burg. „Ihr könnt euch ausruhen, wenn du willst. Mir egal. Fühlt euch wie zu Hause! Ich sag Adam Bescheid, dass er das Mittagessen ruhig etwas ausgiebiger gestalten darf.“
Ju nickte. „Danke!“
Ein Wort, das Roven bislang recht selten von ihm gehört hatte.
„Passt schon!“, antwortete er und setzte seinen Weg in die Küche fort, während der Tibeter mit seiner Isländerin die Stufen hinaufschritt.
Jolina wusste weder, was sie zu erwarten hatte, noch, ob sie das überhaupt meistern würde. Sie wusste nicht einmal, ob sie Noah damit wirklich wachrütteln könnte, sich auf die Kehrseite und damit in höchste Gefahr zu begeben. Aber aus irgendeinem Grund beruhigte es sie, Daman an ihrer Seite zu wissen.
In beinahe weltliche Sachen gekleidet wartete sie mit einer Tasche auf dem Rücken am anderen Tor der Stadtmauern auf ihren Begleiter. Im Gegensatz zum dichten Wald, der zwischen der Stadt und der Insel der Nihren wuchs, war diese Seite von freiem Weidenland umgeben – in Beige, Blau und Rot wechselten sich Blüten und Getreide ab.
Die Halbgöttin wusste nicht, welche Strecke sie zurücklegen würde, deswegen hatte sie flache Sandalen gewählt. Eine weite, hellblaue Seidenhose verhüllte ihre Beine und darüber trug sie ein weißes Hemd. Ihre sonst offen wehenden Locken waren in einem zwanglosen Knoten zusammengefasst. Natürlich hatte sie darauf geachtet, dass niemand im Tempel ihre Aufmachung bemerkt hatte. Ihre Mutter und Elias würden frühestens in drei Tagen nach ihr suchen. Dann wäre sie hoffentlich schon durch das Tor.
Ganz allmählich wurde es in Enûma wieder hell. Am Horizont erhoben sich drei glühende Halos, die den Tag ankündeten und damit auch die Ankunft des Sators.
Rechts von Jolina in einiger Entfernung bildete sich eine riesige
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