Lichtschwester
schon.
»Ich sehe kein Licht«, sagte Ressa zweifelnd, setzte dann ihren Reisesack ab und hüllte ihr Kind fester in ihren dünnen Umhang, um es gegen den Wind zu schützen. »Vielleicht ist das gar nicht das richtige Gasthaus.«
Sharik wies auf das Schild über der Tür, auf dem im Strahl ihrer Laterne trotz dieses dichten Schneegestöbers die Silhouette einer roten Falkin mit gebreiteten Schwingen zu erkennen war. »Das ist das Zeichen meines Ordens! Man sieht nur deshalb kein Licht, weil die Läden geschlossen sind. Die Schlafmützen sind wohl alle schon zu Bett gegangen«, sagte sie und fuhr, nach einem schnellen Blick zum nächtlichen Himmel, dann fort: »Von mir aus könnte das jetzt auch der Palast des Winterkönigs sein, solange er nur vier Wände und ein Dach hat!« Und damit begann sie, wieder gegen die Tür zu hämmern.
Wer immer da drin ist, ich zähle jetzt bis zehn, schwor sie sich stumm, und bei den Göttern, wenn die Tür bis dahin nicht offen ist, schlage ich sie ein!
Als Sharik bei »sieben« angelangt war, flog die Tür so jäh auf - daß ihre Faust beinahe im Gesicht eines hübschen Jungen von etwa fünfzehn Jahren gelandet wäre, der da plötzlich vor ihr auf der Schwelle stand. Der Junge duckte sich aber noch rechtzeitig und fluchte. »Was, zur Hölle, wollt ihr?« fragte er dann, schläfrig blinzelnd, aber ein Holzscheit schlagbereit haltend. Sharik schob ihn zornschnaubend beiseite und führte Ressa in die von Kerzen erhellte Gaststube und schnurstracks zu dem gemauerten Ofen an der hinteren Wand, in dem noch ein bedecktes Kohlenfeuer glomm.
»Bring die Pferde in den Stall«, rief sie dann dem Jungen über die Schulter zu.
»Den Teufel werde ich«, knurrte der verdrießlich. »Ihr könnt doch nicht so einfach . ..«
Da ließ Sharik ihre Satteltaschen fallen, schüttelte ihren Umhang ab und drehte sich herrisch zu ihm um. Groß und schlank stand sie da, eine junge Frau von achtzehn Jahren, mit dichtem, rotem Haar und in der Uniform des Ordens der Roten Falkin. Rechts auf ihrem Steppwams leuchtete das Falkin-Emblem. Daß es auch auf dem Schild draußen prangte, hatte seinen Grund. Denn dieses Gasthaus gehörte den Falkinnen und diente ihnen als Kurierherberge zwischen ihrer Ordensburg in Atenawa und der recht abgelegenen kleinen Garnison Tarzy's Forge, die den Tempel der Erntegöttin zu schützen hatte. Gut und schön, wenn es auch an anderen Reisenden, die hier unterwegs waren, etwas verdiente; doch die Angelegenheiten der Großen Kriegerin hatten in jedem Fall Vorrang. Der Junge sah sie verblüfft an, ließ seinen Blick zwischen ihrer Uniform und dem Schwert an ihrem Gürtel hin und her wandern. »Die Pferde in den Stall bringen«, murmelte er schließlich und nickte, nahm dann von dem Haken neben der Tür die Laterne und zündete sie an einer der Kerzen an, warf sich eine Jacke über und trat in den Winterwind hinaus.
Ressa hatte Dreyan, ihren kleinen Sohn, auf den Ofensims gebettet und wärmte ihm mit ihrem Atem die eisigen Füßchen und Händchen. Nun wischte sich Sharik den Schnee von ihren geflochtenen Haaren, blies ihre Laterne aus und stellte sie neben Ressas Reisesack ab, nahm einen Schürhaken und stocherte in der kohlenbedeckten Glut, bis daraus ein loderndes, knisterndes Feuer aufsprang. Zufrieden lächelnd legte sie das Schüreisen weg, setzte sich auf den Ofen und seufzte wohlig, als sie die Wärme durch ihre Kleidung dringen spürte.
»Bei den Göttern, das tut gut! Wenn das noch länger so gegangen wäre, wäre ich im Sattel festgefroren. Wie geht's dem Kleinen ?«
Ressa hatte ihren Umhang abgelegt und war schon dabei, Dreyan zu stillen. »Sehr gut«, erwiderte sie, ohne aufzublicken. »Aber es war wohl auch höchste Zeit...«
Sharik musterte ihre Reisegefährtin, auf die nun der helle Schein des Feuers fiel. Ressa war sicher nicht älter als sie, eher noch etwas jünger, und wäre mit ihrem honigblonden Haar und mit ihren strahlendblauen Augen wohl eine Schönheit gewesen - wenn da nicht dieses dunkle, weinrote Muttermal gewesen wäre, das ihre ganze linke Gesichtshälfte bedeckte. Ressa hatte, seit sie einander am Nachmittag auf der Landstraße begegnet waren, ihren Kopf immer so gehalten, daß es nicht zu sehen gewesen war. Als sie nun auf ihr saugendes Kind hinabblickte, huschte ein sanftes Lächeln über ihr verunstaltetes Gesicht, das all ihre Traurigkeit wegwischte.
Was für eine Verwandlung!
»Eine
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