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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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neben ihr.
    Als sie sich umdrehte, war Roland verschwunden. Sein offenes Gesicht hatte sich in ein schattiges Territorium aus unbeständigen Flächen und Winkeln und flüchtigen Eindrücken verwandelt. Seine langfingrigen Hände lagen unnatürlich ruhig auf dem Tisch. Selbst seine goldenen Augen wirkten jetzt dunkel, gefährlich, tiefer als Ozeane.
    »Mein Gott«, sagte Li. »Wie machst du das?«

    »Was denn?«, fragte er und lächelte schüchtern. »Ach, du meinst meine animalische Anziehungskraft und mein natürliches Charisma?« Aus dem Lächeln wurde ein ausgewachsenes Grinsen. »Sei nicht zu streng mit Roland. Schließlich ist er erst dreiundzwanzig. Als ich in seinem Alter war, lebte ich in einem von der Regierung subventionierten Labor mit schlechter Beleuchtung, konnte keine zwei Sätze hintereinander sprechen und spielte vierundzwanzig Stunden am Tag Schach. Ein Spiel, sollte ich hinzufügen, das ich heute für nichts auf der Welt noch einmal spielen würde …« Er hielt inne und lächelte zur Decke empor. »Na ja … für fast nichts.«
    Er faltete mit einer schwungvollen Bewegung Lis Serviette auseinander und reichte sie ihr. »Also«, sagte er und füllte ihr Weinglas nach, »welchen Umständen verdanke ich dieses außerordentliche und unerwartete Vergnügen? Bist du nur hier, um meine Gesellschaft zu genießen, oder brauchst du etwas?«
    »Was ich brauche«, sagte Li, »ist ein Ratschlag.«
    »Und den sollst du bekommen. Nachdem du mit mir zu Abend gegessen hast, abgemacht?«
    »Abgemacht«, sagte Li, aber als der Kellner ihr die Speisekarte brachte, fielen ihr gleich zwei Dinge auf. Zum einen standen keine Preise auf der Karte. Zweitens war sie auf Spanisch verfasst, und von der Hälfte der aufgelisteten Speisen hatte Li noch nie etwas gehört.
    »Ähhh«, sagte sie und konsultiere ihren Festspeicher, um herauszufinden, was Pferdefüße waren und ob es sich bei girolle um einen Vogel oder einen Pilz handelte.
    »Die Austern sind hervorragend«, sagte Cohen.
    »Schön.« Sie schlug die Speisekarte zu. »Also Austern.«
    Cohen gab die Bestellung auf und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Na denn«, sagte er so ruhig, als unterhielten sie sich über die Galerieeröffnungen dieser
Saison, »was ist so dringend, dass du mich hier aufstöberst und ein gutes Menü unterbrichst? Gehe ich recht in der Annahme, dass es mit deinem kleinen Tête-à-tête mit Korchow heute früh zu tun haben könnte?«
    Li verschluckte sich an ihrem Wein und hustete in die Serviette. »Spionierst du mir etwa immer noch nach?«, fragte sie, als sie wieder sprechen konnte.
    »Sei nicht so frech, Schätzchen. Genau genommen spioniere ich Nguyen nach, nicht dir. Und außerdem bin ich nun einmal so programmiert. Von Natur aus neugierig. Wir kommen beide nicht gegen unsere Programmierung an, stimmt’s?«
    Li kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.
    »Du meine Güte«, sagte Cohen. »Da haben wir wieder diesen finsteren Das-klären-wir-später-Blick. Trink noch ein Glas Wein. Und sag mir, wie er dir schmeckt.«
    Li trank noch einen Schluck und starrte Cohen immer noch mit regungslosem Gesicht über den Rand des Glases hinweg an.
    »Also?«, fragte er und beugte sich vor.
    »Gut.«
    »Gut? Mehr fällt dir nicht ein? Da könnte ich ihn gleich in den Ausguss schütten.«
    » Du hast mir eingeschenkt«, betonte Li.
    »Was bin ich für ein Trottel.«
    »Warum hast du mir wieder …«
    »Die Austern für die Dame«, sagte der Kellner und beugte sich über Lis Schulter, um einen riesigen Teller vor ihr auf den Tisch zu stellen. Sie schaute auf den Teller, während der Kellner Cohens Essen servierte. Zwölf faustgroße Austern, die im Scheinwerferlicht feucht glänzten.
    »Sind sie schon tot?«, fragte Li.
    »Sie merken nichts davon«, erklärte Cohen. »Und versuche nicht zu kauen, bevor du schluckst. Du wirst viel
ausgeglichener sein, wenn du deinem Essen die volle Aufmerksamkeit widmest.«
    Die Austern waren natürlich phantastisch. Alles, was Cohen ihr je vorgesetzt hatte, war phantastisch. Sie schmeckten nach Salz und Jod und tiefem, klarem Wasser. Der Geschmack des Meeres, vermutete sie, obwohl sie noch nie ein Meer gesehen hatte. Sie aß zwei Teller, verdrängte entschlossen jeden Gedanken daran, wie viel Cohen dieses Essen kosten musste, und selbst im Stromraum fühlte sie sich proppenvoll.
    »Also«, sagte sie, als Cohen sein Dessert aufgegessen hatte und die Kellner zwei Kaffee, pâte de fruits und verzierte petits

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