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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Verbindungen zu dem Planeten gehabt, die bisher noch niemandem aufgefallen waren? Eine tief sitzende, kindliche Loyalität, die sie von der Arbeit abgelenkt hatte, die sie hier erledigen sollte?
    Li schüttelte den Kopf und hatte plötzlich das Bedürfnis, laut loszulachen. Wie wollte man sich Sharifi erklären? Sie und Li ähnelten sich in genetischer Hinsicht wie eineiige Zwillinge – sogar noch mehr, weil die zufälligen Abweichungen, die bei einer natürlichen Zeugung auftraten, in den Geburtslabors gewissenhaft überwacht und korrigiert worden waren. Sie waren in den Tanks desselben Labors gewachsen. Und wenn Sharifis Handschrift nicht trog, hatten sie Schreiben und Rechnen mithilfe derselben gebrauchten und abgenutzten Lehrbücher gelernt, aus denen jedes Jahr die Antworten der Schüler vom vorigen Jahr ausradiert wurden, bevor man sie, zum unvermeidlichen
Vortrag über den Respekt vor Kircheneigentum, an die neuen Schüler austeilte. Doch hier stand Li, ein Bergarbeiterkind, das sich mit größter Mühe durch die obligatorischen Physikkurse in der Offiziersanwärterschule gekämpft hatte, und betrachtete die Gleichungen, die Sharifi zur wichtigsten Wissenschaftlerin ihrer Generation gemacht hatten.
    Li hatte sie zweimal persönlich gesehen, beide Male nur aus der Ferne. Sharifi hatte auf Alba ihr Pflichtpensum an Gastvorlesungen abgeleistet, als Li gerade ihre Kurse belegte. Die akademisch unbedarfte Li hatte es sorgfältig vermieden, eine ihrer Lehrveranstaltungen zu besuchen, aber Sharifi war bereits berüchtigt – als eine Person, die man nicht übersehen konnte.
    Und natürlich hatte Li sie nicht übersehen. Sie hatte sie beobachtet. Heimlich. Schuldbewusst. Fest überzeugt davon, dass jedes offenkundige Interesse an dieser Frau sie verraten oder zumindest gefährliches Misstrauen hervorrufen würde. Sie hatte in diesem Semester mehr von ihren eigenen Dateien gelöscht als in ihrer Zeit an der Front; jedes Mal, wenn sie Sharifi ansah, gab sie sich selber auf.
    Es war in dem Semester gewesen, bevor Sharifi den Nobelpreis erhielt, wenn auch Jahrzehnte nach der Arbeit, die durch diesen Preis geehrt wurde. Sharifi war für einen Quantenphysik-Lehrstuhl auf Alba im Gespräch gewesen, aber sie hatte ihn nicht erhalten – aus nahe liegenden Gründen. Li erinnerte sich daran, dass einige dagegen protestiert hatten. Ein älterer Professor – ein Mensch – hatte mit Rücktritt gedroht, wenn Sharifi nicht berufen wurde. Am Ende hatte er aufgegeben, und Sharifi zog ihre Bewerbung zurück und nahm einen privaten Forschungsauftrag an.
    Aber es war ein langer Weg von Universitäten im Ring und Forschungsparks bis zur Sohle eines Bose-Einstein-Bergwerks. Was hatte Sharifi im Anakonda-Bergwerk gewollt?
Was konnte die Risiken, die sie wie jeder auf Compson Geborene genau kannte, wert gewesen sein?
    Li nahm ein ledergebundenes Buch vom Schreibtisch und blätterte es durch. In eine Lasche auf der Innenseite des Buchdeckels waren ein Bündel Visitenkarten und, in einer weichen Lederhülle, die für ein Notizbuch oder einen Stift gedacht war, ein eselsohriges Stück Karton eingesteckt, das so aussah, als habe es jemand ein paar Tage in der Hosentasche getragen. Li nahm es in die Hand, spürte das ungewöhnliche Gefühl von Papier unter ihren Fingerspitzen, und ihr fiel ein, dass sie dergleichen schon einmal gesehen hatte. Es war eine Frachtquittung, wie man sie erhielt, wenn man ein Schließfach mietete oder Post auf einem Frachter durch den Realraum verschickte. Die gedruckte Zahl auf der Vorderseite musste die Fachnummer oder die Frachtnummer des Pakets selbst sein. Sie drehte die Quittung um, suchte nach dem Schiffsnamen und fand nur einen Stern mit acht Spitzen, der sich um den Buchstaben M wand.
    Sie steckte die Frachtquittung wieder unter die Lasche und blätterte durch das Notizbuch. Es bestand aus einem halben Dutzend E-Papier-Bögen, die mit Karteireitern unterteilt waren: Laboraufzeichnungen, Protokolle, Notizen, Termine. Li tippte auf die Terminseite und erhielt eine höfliche, unpersönliche Fehlermeldung, dass der Zugriff nicht möglich war. Sie loggte sich in das Betriebssystem des Notizbuchs ein, fand die Login-Liste und kopierte Sharifis Passwort, ohne die Prozessoren im Geringsten ins Schwitzen zu bringen. Li grinste, und auf eine irrationale Weise war ihr auf einmal viel wohler bei der ganzen Operation; wie brillant auch immer, war Sharifi doch zumindest menschlich genug gewesen, um die lächerlichsten

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