Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
Vom Netzwerk:
sie in der Zwischenzeit taten. Kein Angehöriger der Syndikate verirrte sich in den UN-Raum. Kein UN-Bürger schloss sich den Syndikaten an.
Keine Nachrichten wurden von den Orbitstationen aufgefangen, die die entfernten Heimatwelten der Syndikate umkreisten. Die Konstrukte hatten keine Presse und keine erkennbare Regierung – es sei denn, man betrachtete die diffusen Vertretergremien der einzelnen Genlinien als eine solche. Sie hatten keine politischen Parteien und keine politischen Dissidenten. Keine Eltern. Keine Kinder. Und vor allem kein Eigentum.
    Nur die Syndikate hatten Besitz, und zu ihrem Besitz gehörten die Konstrukte. Sie besaßen ihre Seelen, ihre Körper, ihre Arbeitskraft, alles. Jedes Konstrukt ordnete sich mit Leib und Seele und, wenn der Propaganda zu glauben war, freiwillig unter. Es genügte nicht, wenn man sagte, dass sie keine Freiheit wollten. Sie glaubten nicht an Freiheit. Sie hatten sich, wie ihre politischen Führer immer wieder erklärten, darüber hinaus entwickelt.
    Erst als Li in den Verhörräumen auf Gilead zum ersten Mal genetischen Konstrukten begegnete, die nach der Abspaltung entstanden waren, begann sie, die ganze Tragweite dieser Entwicklung zu verstehen. Sie schienen einer anderen Spezies anzugehören, die mit dem Menschen nichts gemein hatte. Als die ersten zehn miteinander identischen Gefangenen eingeliefert wurden, redete man über sie, staunte über sie, hatte vielleicht sogar Mitleid mit ihnen. Dann trafen die nächsten hundert, die nächsten tausend, die nächsten dreitausend ein, und das Staunen schlug in Angst und Abneigung um. Man wusste nicht mehr, was man zu einer solch kalten, unpersönlichen, massenweise produzierten Perfektion sagen sollte. Mitleid versagte hier. Der Glaube an die Universalität der menschlichen Natur versagte. Alles versagte.
    Nachdem sie einen Monat auf Gilead verbracht hatte, wusste Li über ihre Feinde nur noch eines mit Sicherheit: dass sie von ihnen gehasst wurde. Nein. Hass war nicht
das richtige Wort. Sie verachteten sie, so wie sie jedes genetische Konstrukt verachteten, das noch für Menschen arbeitete. Sie verachteten sie so, wie Wölfe die Hunde verachteten.
    Und was war mit Sharifi? Was war mit der Frau, die so wenig von sich in dieser Kabine zurückgelassen hatte, die ein ganzes Bergwerk zum Erliegen gebracht, die versprochen hatte, Wunder zu wirken, und dann ihre Spuren verwischte wie ein Dieb? Woran hatte Sharifi geglaubt?
    War sie ein Wolf oder ein Hund?
    Li seufzte, nahm ein E-Papier von einem der ordentlichen Stapel und fuhr mit den Fingern darüber, las einen zufällig ausgewählten Absatz:
    Wie Park und andere angemerkt haben, ähneln die parallelen Wellenmuster, die in Bose-Einstein-Schichten in situ dokumentiert wurden, deutlich den Quantenphänomenen, die mit menschlichen Gehirnwellen einhergehen und mit den weniger ausführlich erfassten Quantenphänomenen, die in den assoziativen Interaktionen emergenter Künstlicher Intelligenzen nach dem poststrukturalistischen Modell anzutreffen sind.
    Und am Eingaberand des E-Papiers, in Sharifis Handschrift flüchtig hingekritzelt:
    Re: verstreute/kolonieartige Netze in organischen Gebilden siehe: Falter: Principia Cybernetica und die Physiologie des Großen Barrier-Riffs, MIT Press, 2017.
    Sie überflog das nächste E-Papier.
    Handgeschriebene Zahlen und Symbole scrollten über die Seite. Lis Kenntnisse reichten so weit, dass sie Hilbert-Räume, Poisson-Klammern, die langen gewundenen Säulen
von Sharifis Transformationen erkannte, aber mehr auch nicht. Nicht einmal ihr Orakel konnte ihr dabei helfen, diese Skizzen zu verstehen.
    Es war unübersehbar Sharifis Handschrift – und als sie die Notizen über den Bildschirm scrollen sah, erinnerte sich Li an einen Witz, den Cohen gerissen hatte, als er zum ersten Mal Lis Handschrift sah. Etwas in der Art, dass katholische Schulkinder immer so schrieben, als ob Schwester Soundso noch mit einem Lineal in der Hand vor ihrer Schulbank stand. Und natürlich hatte er recht damit. Es war die saubere, gleichmäßige, leserliche Handschrift von jemandem, der Jahre in Schreibschulen durchgestanden hatte, der aus Armut auf Papier zu schreiben gelernt hatte. Mit Schwester Soundso vor der Schulbank.
    Li hatte angenommen, dass Sharifi in jungen Jahren adoptiert worden und im Ring aufgewachsen war. Aber was war, wenn sie sich irrte? Wenn Sharifi bereits auf Compsons Welt zur Schule gegangen war, unterrichtet von den Nonnen? Hatte sie irgendwelche

Weitere Kostenlose Bücher