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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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die dunkle Höhle ihres Schädels hineinblickte.
    Löcher im Universum, dachte Li, und der Schauer, der ihr über den Rücken lief, hatte nichts mit Kälte zu tun.
     
    Als sie wieder oben ankamen, hatte der Sturm zugeschlagen. Die Kaue quietschte und klapperte im Wind. Viruflex-Fetzen und ausgezackte Aluminiumteile wurden vorbeigeblasen, als ob eine riesige, unsichtbare Hand den gesamten Inhalt des Tals durcheinanderwirbelte.
    Li spürte die angespannte, erstickende Qualität der Luft, sobald sie aus dem Grubenbüro trat. Fünfzig Meter weiter standen Männer und Frauen in einer zersausten Reihe auf einem Schutthaufen. Ein paar von ihnen hatten primitive, selbst gebastelte Waffen dabei. Es waren Streikende. Wilde Streikende, um genau zu sein, denn im Anakonda-Bergwerk gab es keine legale Gewerkschaft.

    Li blinzelte sich Tränen aus den Augen und schaute mit zusammengekniffenen Augen durch den aufgewirbelten Sand. Als der Sturm für einen Moment nachließ, konnte sie die Transparente lesen, die die Streikenden hochhielten:
    GERECHTIGKEIT FÜR DIE KLEINEN OPFER
DER BERGWERKSBOSSE!
     
    WIE VIELE MÜSSEN NOCH STERBEN?
     
    SCHLIESST TRINIDAD,
BEVOR NOCH MEHR PASSIERT
    Li fragte sich, warum sie nicht näher kamen, bis in Rufweite. Dann sah sie ein Spalier aus blauen Uniformhemden, die den verwahrlosten Gestalten gegenüberstanden. Wachleute des Konzerns. Mit Kampfflinten.
    »Wird das schon auf Spinvideo gesendet?«, fragte jemand.
    Haas trabte bereits zu den Wachleuten hinüber. Er beugte sich in den Wind, hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund und brüllte dem Einsatzleiter etwas ins Ohr. Er trat zurück, und die Wachleute marschierten los und feuerten Warnschüsse in die Luft.
    Ein paar Streikende wichen zurück. Die anderen nicht.
    Die Wachleute feuerten erneut, diesmal vor die Füße der Streikenden. Eine Frau schrie auf, als sei sie getroffen worden. »Hier sind Kinder!«, kreischte eine andere.
    »Es muss niemandem etwas passieren!«, rief einer der Wachleute, die Stimme gesättigt von Adrenalin. »Machen Sie nur keine Dummheiten.«
    Und dann, ohne dass Li einen Grund dafür erkennen konnte, war die Konfrontation vorbei.

    Die Streikenden ließen ihre Transparente, die Wachleute ihre Flinten sinken. Die Versammlung löste sich auf, und die Streikenden marschierten über die rissige Fahrbahn nach Shantytown zurück. Li durchfuhr ein Schauer der Erleichterung. Niemand würde sterben. Heute jedenfalls nicht.

ABG-Station: 13.10.48.
    D rei Stunden später stand Li, immer noch den Untertagegeruch an Haut und Haar, vor dem Sperrsiegel an der Tür zu Sharifis Unterkunft. Das Band scannte ihr Handimplantat, löste sich auf und fügte sich hinter ihr wieder zusammen, als sie eintrat.
    Sharifis Unterkunft war vollgestopft, funktional und unterschied sich nicht sehr von Lis eigener Kabine einige Speichen weiter. Der ganze Raum war nicht breiter als der Korridor draußen. Li brauchte nur fünf Schritte vom Eingang bis zur Tür des engen Badezimmers. An der linken Wand stand ein flacher Kleiderschrank. Auf der rechten Seite befand sich eine schmale Schlafkoje und ein herunterklappbarer Schreibtisch, der mit Datenwürfeln und lockeren E-Papier-Stapeln vollgepackt war.
    Im Kleiderschrank hingen einige Wechselgarnituren schmuckloser, praktischer Kleidung, einige davon ordentlich zusammengefaltet in einer italienischen Ledertasche, die vermutlich mehr gekostet hatte, als Li in einem Monat verdiente. Keine Familienfotos. Keine persönlichen Gegenstände. Kein Make-up. Abgesehen von einem einzigen Kostüm im Schrank war anhand des Inventars schwer festzustellen, welches Geschlecht der letzte Bewohner dieser
Kabine gehabt hatte. Wer immer Sharifi gewesen war, hier drin hatte sie wenig Spuren hinterlassen.
    Aus einer Laune heraus zog Li die Weste des Kostüms über und betrachtete sich neugierig im Spiegel. Der Stoff drückte unter den Achseln; sie hatte viel mehr Muskeln als Sharifi. Die Weste war ein wenig zu lang, aber schließlich war Sharifi gut zwei Zentimeter größer als sie gewesen – dank besserer Ernährung und weniger Zigaretten. Ansonsten aber saß das Teil gut. Und die Farbe stand ihr. Das war keine Überraschung.
    Der Duft war allerdings schon eine Überraschung. Eine fremdartige Note. Ein Hauch des Parfüms einer anderen Frau. Doch darunter etwas beunruhigend Vertrautes. Eine Erinnerung ging Li durch den Kopf, kam kurz an die Oberfläche, tauchte wieder ab. Ein Hund, der auf einen Bergmann zurannte, der

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