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Liebe am Don

Liebe am Don

Titel: Liebe am Don Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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las die Leukoplastschildchen, die Glawira an die dicken Zehen der Toten geklebt hatte. Beim ersten Bein bedeutete es wohl eine große Überwindung, das Tuch hochzuschieben, beim zweiten schauderte es ihr noch über den Rücken, beim vierten war es bereits Gewohnheit.
    »Semkinew!« rief sie laut. Ihre Stimme war klar und hell.
    »Hier!« brüllten zwei Sargträger.
    Sie gab der rollenden Bahre einen Schubs, und Semkinew – im Leben war er Architekt gewesen – fuhr lautlos über den gefliesten Boden zu seinem Sarg. Dort nahmen ihn die Träger in Empfang und begannen den Toten anzukleiden und aufzubahren.
    »Butlanowa!« rief Njuscha. Sie gab auch der Bahre der ehemaligen Tänzerin und Sängerin Ludmilla Alexandrowna einen Stoß und ließ sie zu ihrem letzten Bett rollen. Vor zwei Wochen wohnte sie noch auf einer Datscha am Wolga-Ufer bei Galowka, eine schöne Frau, Künstlerin des Volkes. Sie starb an einer Fischvergiftung.
    Vier Hände packten sie jetzt, hoben sie von der Bahre, zogen der nackten Gestalt ein Kleid aus weißer Atlasseide an, bekränzten ihr schwarzes Haar mit einer Blumengirlande und legten sie dann in die Kissen des Sarges. Njuscha sah ihnen zu, wie sie die Spitzendecke über den Körper breiteten und an den Seiten in die Ritzen drückten. Dann hoben sie den Deckel darüber, schraubten ihn nur mit zwei Umdrehungen zu, damit er beim Transport nicht herunterfiel und spuckten in die Hände.
    »Genossen, wollen wir mal!« sagte einer. Die anderen drei faßten in die Griffe und blickten sich wie auf ein Kommando zu Njuscha um.
    »Auf gute Zusammenarbeit, Engelchen«, sagte der Älteste von ihnen. »Wie heißt du denn?«
    »Njuscha –«
    »Und wäscht Leichen … Gibt es keine andere Arbeit für dich?«
    »Ihr redet zuviel, Genossen.« Njuscha trat an die Tür und deutete in den breiten Fahrstuhl. »Hinaus! Ich habe keine Zeit, mir hohle Köpfe anzusehen –«
    Erst eine halbe Stunde später kam Glawira Fillipowna von der Verwaltung zurück. Ihr strahlendes Gesicht verriet ihren Erfolg bei der Genossin Leiterin. »Ich habe gesiegt!« schrie sie schon an der Tür und brachte gleichzeitig einen neuen Toten aus dem Kühlraum mit. »Du bist angestellt. Zweihundertdreißig Rubel! Dreißig mehr! Die teilen wir uns, mein Töchterchen, nicht wahr? Gleich dableiben kannst du. Ist das ein schöner Tag!«
    Sie zog ihre Kittelschürze aus, band sich die Gummischürze um und holte neue Handschuhe aus einem Emailkasten. Als Njuscha zögerte, lachte sie und lehnte sich gegen die flachen Wannen.
    »Zieh dich aus, Täubchen. Wer wird sich denn vor den Toten schämen?«
    Und so geschah es. Njuscha streifte Rock und Bluse ab, band die schwere Gummischürze vor, zog eine weiße Kappe über ihr Haar, das sie hoch band zu einem dicken Knoten, ließ sich von Glascha die langen Gummihandschuhe über Hände und Arme rollen und zog das weiße Tuch von dem Toten, der neben ihnen wartete.
    Es war ein junger Mann, braungebrannt und muskulös. Ein schöner Mensch, nur fehlte ihm ein Bein und der Brustkorb war eingedrückt.
    »Unfall –«, sagte Glawira. »Mit einem Motorrad gegen einen Omnibus. Wer hält das schon aus? Seine Mutter haben sie fesseln müssen, so hat sie getobt, als er starb, erzählen sie auf der Station III.«
    Sie hoben ihn in die flache Mulde, und es war das erstemal, daß Njuscha einen toten Mann anfaßte, einen nackten, glatten, schweren, aus den Händen rutschenden, kalten Körper.
    An diesem Tag wuschen Glawira Fillipowna und Njuscha neun Leichen. Vier Frauen und fünf Männer. Und eine Reklamation gab es sogar von den Hinterbliebenen. Njuscha hatte dem Kaufmann Delinow den Bart abrasiert, und nun stand oben die weinende Verwandtschaft und erkannte ihr Väterchen nicht wieder. »Zweiundzwanzig Jahre trug Piotr Konstantinowitsch einen Bart!« schrie die Witwe verzweifelt. »Und im Tode rasieren sie ihn kahl! O mein Liebling, was haben sie dir angetan!«
    Man sieht, auch das Waschen von Toten enthält ein gewisses Berufsrisiko.
    *
    Am Abend trafen sich Bodmar und Njuscha, wie sie verabredet hatten, auf den Stufen an den Tempeln der Siegesallee am Ufer der Wolga. Die Dunkelheit kroch über Stadt und Strom, die Schiffe leuchteten mit Hunderten von Lämpchen, die Tempel glitzerten im Licht der Scheinwerfer, die sie anstrahlten. Njuscha wartete bereits und hatte müde das Kinn auf die angezogenen Knie gestützt, als Bodmar die breite Treppe hinunterhüpfte. An seinen Schuhen klebte noch die Friedhofserde. In der

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