Liebe auf dem Pulverfaß
war glücklich. »Das ist ein Schritt weiter«, sagte er zu Amina, nachdem er sich im Sägewerk vorgestellt hatte. Er hatte gleich mit angepackt, ein Fuhrwerk abgeladen und zehn Franken verdient. Genau betrachtet war es sein erstes, wirklich selbst verdientes Geld, und er legte den Zehnfrankenschein auf den kleinen Tisch, die Abendsonne vergoldete ihn, er war in diesem Augenblick mehr als nur ein bedrucktes Papier, und Amina und Kehat saßen davor, Hand in Hand, blickten auf den Geldschein wie auf etwas ganz Wertvolles und waren stumm vor Glück.
Man braucht manchmal nicht viel Worte, um sich bis in den Grund der Seele zu verstehen –
»Bei zehn Stunden vierzig Franken am Tag …«, sagte Kehat leise, fast feierlich.
»Bei zwanzig Arbeitstagen achthundert Franken …«
»Ich werde auch samstags arbeiten …«
»Dann werden es neunhundertsechzig Franken.«
»Jeden Monat!«
»Welch ein Reichtum! Der Reichtum eines Bibers, der im Winter nicht verhungern will …« Sie schlug plötzlich ihre Hände vor das Gesicht und weinte. Kehat verstand sie, und er rührte sich auch nicht, um sie zu trösten. Was sollte er sagen? Zehn Stunden schleppte er Zentnerlasten herum, und ein Almosen war die Quittung. Aber man konnte leben, man konnte hier in der Stille bleiben, man konnte am Abend über den Rhein blicken und in der Dämmerung mit dem Kahn im toten Arm die Einsamkeit des Paradieses erleben. Man konnte in diesem Zimmer unter dem Dach zusammen in einem Bett liegen und sich lieben, bis der Atem versagte, man konnte alles Glück, das zwei Menschen empfinden können, ausschöpfen, austrinken, bis man trunken war von Wonne … man war dem Himmel nahe, verkroch sich in den Falten von Gottes Mantel und betete jede Nacht: Herr, laß uns leben! Herr, gib uns das Morgen! Herr, schütze uns vor dem Gestern. Herr, sieh auf uns herab … wir lieben uns –
Aber war das genug?
Ein Leben ist lang, wenn man erst vierundzwanzig Jahre von ihm hinter sich hat. Was vor einem liegt, ist eine grandiose Strecke, ein Marsch ins Unbekannte. Genügt dafür allein die Liebe?
»Amina –«, sagte er leise und berührte ihren bebenden Nacken. Sie nickte, aber ihre Hände blieben vor ihrem Gesicht.
»Es ist gleich vorbei –«, sagte sie.
»Das alles hier ist doch nur ein Übergang.«
»Ich weiß, Kehat. Ich bin eine dumme Gans.«
»Wir sind Nullen auf Zeit.«
»Wie lang ist die Zeit?«
»Auf diese Frage bekommen die wenigsten Wartenden eine Antwort.«
»Ich will sie dir geben: Bis die Araber Israel vernichtet haben!«
»Oder wir die arabische Welt von dem Recht unserer Existenz überzeugt haben.«
»Also nie!« Sie ließ die Hände sinken und drehte den Kopf zu ihm. »Kehat, wir werden an unserer Liebe zugrunde gehen. Solange unsere Väter leben …«
»Sollen wir unsere Väter töten?« schrie Kehat plötzlich.
»Vielleicht tun sie es selbst –«
Sie starrten sich an, erschüttert von ihren Gedanken, aufgerissen von ihrer schrecklichen Grausamkeit, frierend in der Erkenntnis, daß sie bereit waren zu töten um ihrer Liebe willen.
»Wir sind Bestien …«, sagte Kehat tonlos. »Mein Gott, wir sind wahre Bestien.«
»Man hat uns gezwungen, aus unseren Käfigen auszubrechen, Kehat!«
»Wir zerfleischen unsere Eltern und fressen sie auf.«
Über dem Rhein ging der Tag unter. Die Nacht kam mit dicken Wolken, aber es war warm, schwül, der Schweiß brach aus den Poren, es roch nach Gewitter.
»Komm –«, sagte Kehat und griff nach dem Zehnfrankenschein. »Ich muß hinaus. Ich … ich muß unter einem weiten Himmel sein, sonst bringe ich mich um!«
Sie rannten die steile Treppe hinunter, kauften von dem Wirt zwei Flaschen Wein für ihre zehn Franken, hetzten über die Wiese, das Rheinufer entlang, kletterten in den Kahn, ruderten in den toten Arm, und dort schlug Kehat den Flaschen den Hals ab, setzte sie an den Mund und trank, trank und trank, als verdorre er innerlich.
Still, die Hände im Schoß gefaltet, saß Amina neben ihm im Kahn.
Es begann zu regnen, die Wolken ballten sich zusammen, es rauschte auf sie herunter, durchnäßte sie, schien sie aufzuweichen … und Kehat trank, warf dann die Flaschen in den Rhein und breitete die Arme aus, als wolle er den Wolkenbruch umarmen.
»Freiheit!« brüllte er betrunken. »Freiheit! Freiheit! Wer schenkt mir Freiheit?«
Er schlug in den prasselnden Regen, das Wasser rann über sein trunkenes und doch so seltsam leeres Gesicht, aber als er aufsprang und der Kahn gefährlich zu
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