Liebe auf den letzten Blick
streiche ihm über die blonden Locken. »Geh zu Gustl in die Küche und lass dir einen Saft geben.«
Immer noch unbeweglich vor mir aufgebaut, scheint es, als überlege er angestrengt, ob er überhaupt Saft möchte. »Sollich Irma was vorsingen?«, fragt er und beginnt zu singen: »Alle Entchen, schwimmen in der See … Schwänzchen im Wasser, Köpfchen … Höhööö …«
Gerührt halte ich ihm den Apparat hin: »Möchtest du hallo zu Irma sagen?«
Er greift danach und sagt: »Sei nicht mehr traurig, du darfst mit meinem Ferrari spielen. Mein Lieblingsauto, sonst darf das niemand anfassen. Nur du. Weil du so traurig bist.« Kaum hat er das letzte Wort ausgesprochen, gibt er mir das Telefon zurück, sagt: »Weint immer noch«, und saust davon.
Ich habe den kleinen Bengel ja längst in mein Herz geschlossen, aber mit dieser umwerfenden Logik hat er es endgültig erobert.
»Ach, Irma«, seufze ich, als ich den Hörer wieder an mein Ohr drücke. »Ich möchte dir so gern zur Seite stehen, wenn du mir nur sagst, wie. Soll ich nach Cannes kommen?«
»Danke, das ist lieb, Mathilde«, sagt sie. »Das kostet aber nur unnötig Geld, und im Moment wüsste ich nicht, wie du mir hier helfen könntest. Die Leute vom Hotel waren sehr freundlich …«
»Wie steht’s mit der Rechnung?«, unterbreche ich sie, als sich an dieser Stelle die Buchhalterin in mir meldet.
»Was soll damit sein?«, fragt sie verwundert.
»Ich meine, ob du genügend Geld hast, um sie zu bezahlen? Das Carlton ist ja nicht gerade eine billige Absteige.«
»Nein, das nun wirklich nicht. Ein Tässchen Espresso kostet hier zehn Euro. Aber Otto und ich sind doch von der Filmproduktion eingeladen worden …« Sie bricht ab. »Ist das nicht alles total surreal? Ich hocke hier in diesem Luxusbunker, um mich herum nur Glanz und Glamour, und anstatt in Schampus zu baden und mich zu amüsieren, grüble ich darüber nach, wie ich meinen toten Verlobten …« Sie stockt abermalsund lacht unerwartet auf, was jedoch in einem kratzigen Hustenanfall endet.
»Alles in Ordnung, Irma?«, frage ich.
Sie räuspert sich einige Male, bevor sie antwortet: »Ja, ja, mach dir keine Sorgen. Mir wurde nur gerade bewusst, dass die ganze Situation Potential für eine echte Tragikomödie hat. Ich glaube, Otto hätte sich schiefgelacht.«
»Ja, bestimmt«, stimme ich ihr zu. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Ich musst erst abwarten, was die Obduktion ergibt.«
»Und dann?«
»Keine Ahnung. Es ist mein erster Urlaub mit … Na ja, eben mit einer Leiche«, antwortet sie und schnauft aus tiefster Brust, bevor sie wieder auflacht. »Ferien mit Leiche! Könnte glatt ein Filmtitel sein.«
»Na, das klingt ja fast, als hättest du deinen Humor wiedergefunden«, erwidere ich.
»Wohl eher Galgenhumor«, murmelt Irma. »Genauer gesagt, die Pillen wirken langsam.«
»Irma!«, rufe ich erschrocken. »Du machst doch keine Dummheiten?«
»Nein, entspann dich. Ich hab nur ein leichtes Beruhigungsmittel geschluckt, keinen Psychohammer. Der Arzt hat es mir gegeben, damit ich nicht ständig in Tränen ausbreche.«
Erleichtert atme ich auf. »Gut. Hat die Polizei dir schon gesagt, wie lange das Ganze dauern wird?«
»Nein«, antwortet Irma. »Das heißt, der Arzt hat mit den Gendarmen gesprochen. Ich kann ja außer ein paar Floskeln kein Französisch.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich eine schwarze Gestalt das Zimmer betreten.
»Mit wem telefonierst du denn so lange?«, fragt Amelie. »Luis wird langsam ungeduldig.«
Ich zögere eine Minisekunde, ihr die Wahrheit zu sagen, entscheide mich dann aber dagegen. »Bin in einer Minute da«, versichere ich.
Enttäuscht zuckt sie die Schultern und rauscht ab.
»Das war Amelie«, sage ich in den Hörer, erhalte aber keine Antwort. »Hallo Irma?«, rufe ich erschrocken. Erst nach dem dritten »Hallo« meldet sie sich.
»Entschuldige, Mathilde, ich musste den Hörer kurz weglegen, weil es an der Tür geklopft hat. Der Arzt ist hier«, sagt sie eilig »Ich melde mich wieder.«
In der Küche empfängt mich Amelie mit neugierigem Gesichtsausdruck »Und, alles in Ordnung?«
»Ja, ja«, antworte ich ausweichend. Vor Luis, der am Tisch sitzt und ungeduldig mit den Beinen baumelt, möchte ich das Thema nicht erörtern.
»Gelogen!«, sagt sie mir auf den Kopf zu. »Warum heult Irma denn?«
»Wer sagt das?«
Sie wirft einen vielsagenden Blick auf Luis.
»Das würde jetzt zu weit führen«, wiegle ich ab.
Doch Amelie wittert natürlich das große
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