Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
auffasste. »Warum sollte ihr jemand Schaden zufügen wollen?«
»Da fragst du mich wirklich zu viel«, seufzte sein Cousin.
»Wer weiß noch von dir und Clarissa? Außer mir doch sonst keiner, oder?«
»Mutter und Mary natürlich, aber die beiden haben Clarissa schon ins Herz geschlossen«, räumte Adrian ein. »Da fällt mir etwas ein. Prudhomme weiß vermutlich von uns.«
»Prudhomme?«
Adrian nickte. »Ich glaube, er hat uns im Park entdeckt, an dem Abend, als Mutter das mit dem Picknick arrangiert hatte. Ich hab ihn nicht gesehen und mag mich täuschen, aber neulich abends hat er mir gegenüber eine ironische Bemerkung losgelassen von wegen ›Clarissa und Küsse im Mondenschein‹.«
»Hmmm. Und was ist mit ihrer Zofe?«
»Wer? Clarissas Zofe?« Adrian nickte. »Ich schätze mal, Joan weiß Bescheid. Sie hat Clarissa vorhin zurück ins Haus gebracht, weil Lydia das Mädchen suchte. Joan war kein bisschen überrascht, als sie mich sah. Allerdings weiß sie auch, dass Clarissa ohne Brille kein Wort lesen kann.«
»Hmpf.« Reginald blies missmutig die Backen auf. »Die ganze Sache ist und bleibt mir ein Rätsel.«
»Mir auch«, grummelte Adrian.
Die beiden Männer schwiegen eine kurze Weile, dann sagte Reg: »Was macht dich so sicher, dass es kein Unfall war … wie ihre anderen Missgeschicke?«
»Weil ich ihr keine Nachricht geschickt hab. Das war dein Part«, erinnerte Adrian ihn.
»Ja, aber … die Notiz war womöglich bloß ein fieser kleiner Scherz, und dann hatte diese Schusselliese blöderweise einen Unfall«, gab Reg zu bedenken.
»Hier gibt es keine Äste, an denen man sich den Kopf stoßen kann«, betonte Adrian. »So langsam frage ich mich, ob das überhaupt immer alles Unfälle sind. Jedenfalls hat Clarissa verdammt viele Unfälle – sie fällt die Treppe runter, läuft direkt vor eine fahrende Kutsche …«
»Mensch, Adrian, jetzt mach aber mal einen Punkt! Clarissa ist ohne Brille blind wie ein Maulwurf. Sie hat eine Teetasse auf mir abgestellt in der Annahme, mein Schniedel wäre ein Tisch«, erregte sich Reg. »Sie hat Prudhommes Perücke angezündet. Dass sie im Sturzflug Treppen hinuntersegelt und ein Pferd knutscht, wundert mich da kaum.«
»Du kannst reden, so viel du willst«, knirschte Adrian, »aber ich muss dringend mit ihr sprechen.«
»Abwarten und Tee trinken, Junge. Es ist schon verdammt spät. Außerdem hat Lydia etwas gemerkt, sie lässt das Mädchen nicht mehr aus den Augen. Ich schlage vor, wir verschieben alles Weitere auf morgen und denken uns in der Zwischenzeit was Besseres aus.«
Adrian knurrte widerwillig zustimmend, sein Blick auf ein Fenster im ersten Stock des Hauses geheftet. Kerzenlicht erfüllte den Raum, und er gewahrte die Silhouetten zweier Frauen. Als die Größere begann, die Kleinere zu entkleiden, wurde ihm unversehens bewusst, dass es Clarissa und ihre Zofe waren. Er verfolgte gebannt, wie sie dem Mädchen das Oberteil aufschnürte, es mit sanfter Hand von ihren Schultern schob und ihr aus dem Rock half.
»Hey Adrian, hörst du mir überhaupt zu?«
Er riss sich widerstrebend von dem verführerischen Anblick los und fixierte seinen Cousin. »Was?«
»Ich werde jetzt auf den Ball zurückkehren, mich unter irgendeinem Vorwand verabschieden und nach Hause fahren.«
»In Ordnung«, muffelte Adrian. Sein Blick wanderte abermals zu dem hell erleuchteten Fenster. Seine sämtlichen Synapsen konzentriert auf das, was sich dort oben abspielte, bekam er kaum mit, dass sein Cousin noch irgendetwas sagte, ehe er abschob.
Er beobachtete das Fenster, bis die Zofe den Kerzenleuchter nahm und Clarissa sanft aus dem Zimmer schob. Unvermittelt hatte er eine Idee. Er musste irgendwie in dieses Zimmer gelangen. Dort wollte er warten, bis Clarissa zurückkehrte, um von ihr zu erfahren, was genau heute Abend passiert war und was es mit den anderen Missgeschicken auf sich hatte. Danach würde er bestimmt wissen, ob er sich ernsthaft Sorgen machen musste oder nicht.
Zufrieden mit seinem Plan, schlich sich Adrian näher an das Haus heran und inspizierte die Bäume, die vor ihrem Fenster standen. Da hochzuklettern war garantiert eine der leichteren Übungen für ihn.
***
»Hm, der Ball war wohl früher zu Ende als erwartet.«
Clarissa quittierte Joans Beobachtung mit einem unfrohen Lächeln und seufzte bitter. »Ja. Darüber wird Lydia gar nicht glücklich sein. Ich hab mich schnell verdrückt, bevor die letzten Gäste gingen, sonst hätte ich
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