Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
höchstwahrscheinlich ihren ganzen Ärger abbekommen.«
Eine rauschende Ballnacht endete für gewöhnlich erst in den frühen Morgenstunden. Demnach war Lydias Fest nicht wirklich ein Erfolg. Clarissa ahnte Schlimmes. Ihre Stiefmutter, die ohnehin schnell wütend wurde, würde ausrasten. Ach Gottchen, morgen ist Lydia bestimmt ungenießbar, murmelte sie mehr zu sich selbst, während Joan ihr beim Entkleiden behilflich war.
»Wie geht es Ihrem Kopf?«, erkundigte sich die Zofe.
Statt einer Antwort stöhnte Clarissa laut auf, denn Joan zog ihr eben das Kleid über den Kopf. Zum Glück hatte der Ast sie an der Schläfe getroffen, und unter ihren Haaren fiel die dicke Beule kaum auf. Sie hatte den ganzen Abend höllische Kopfschmerzen gehabt. »Ach, alles halb so wild. Bis morgen wird das schon wieder«, meinte sie gedehnt.
»Tut es sehr weh?«, fragte Joan besorgt. »Möchten Sie etwas gegen die Schmerzen?«
»Lieb gemeint, aber das ist nicht nötig. Danke, Joan.«
Nach kurzem Zögern nickte die Zofe. Sie breitete das Abendkleid über einen Stuhl, der neben dem Kleiderschrank stand, um das gute Stück am nächsten Morgen frisch aufzubügeln. »Da fällt mir noch ein, haben Sie Lord Mowbray informiert, dass er Nachrichten für Sie künftig an mich schicken soll?«
»Nein. Es ging alles so schnell. Ich konnte ihn nicht mal nach dem Grund fragen, warum er mich sehen wollte«, gestand Clarissa.
Sie hörte, wie Joan leise missfällig mit der Zunge schnalzte, als hätte die junge Lady eine Riesenchance verpatzt. Dabei hatte sie wirklich kaum Gelegenheit gehabt, mit Adrian zu sprechen! Joan hatte sie ruckzuck zurück ins Haus gescheucht und ihr ein sauberes, trockenes Kleid übergestreift. Ein paar Minuten hätte Joan ihr ruhig noch lassen können, sann sie bekümmert. Zumal sie Adrian zu gerne gelöchert hätte, weswegen er sie denn heimlich treffen wollte. Andererseits konnte sie ihrer Zofe keinen Vorwurf machen. Letztlich hatte sie goldrichtig gehandelt – ein paar Minuten später, und Lydia hätte sie womöglich in flagranti erwischt. Das Mädchen mochte gar nicht darüber nachdenken, was dann passiert wäre.
»Ich hab Ihnen einen heißen Kakao mitgebracht, damit Sie besser einschlafen«, unterbrach Joan ihre Gedankengänge. Sie streifte Clarissa behutsam ein Nachthemd über den Kopf.
»Danke, Joan. Danke für alles.«
»Für Sie mach ich das doch gern, Mylady.« Ihre Zofe glitt zur Tür. »Gute Nacht.«
Clarissa hörte, wie die Tür leise klickend zuschnappte, und tastete sich zum Bett. Joan hatte eine Kerze auf das Nachttischchen gestellt, sie brauchte sie bloß noch auszupusten. Sie spitzte die Lippen und blies sie behutsam aus, dabei achtete sie sorgsam darauf, nicht zu nah an die Flamme zu kommen. Dann schlüpfte sie unter die Decke. Ihr Kopf dröhnte, und sie war müde – viel zu müde, um den Kakao zu trinken, obwohl er köstlich duftete.
Warum wollte Adrian sie treffen?, überlegte sie schläfrig. Sie wünschte, sie hätten mehr Zeit füreinander gehabt. Das Leben war erheblich spannender und aufregender, wenn er bei ihr war. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.
8
Clarissa träumte von Adrian. Er saß mit ihr in einem kleinen Boot und las ihr Gedichte vor, während er sie über einen ruhigen See ruderte. Die Gedichte, die er ihr vorlas, waren ganz anders als die von Prudhomme, es waren bezaubernde, herzzerreißende Geschichten von endloser Leidenschaft und ewiger Liebe. Unvermittelt stockte er bei seiner Lektüre und legte den Kopf schief: »Clarissa? Wo zum Henker steckst du? Autsch! Verdammt, Clarissa?«
Sie blinzelte benommen und klappte schläfrig die Lider auf … und war mit einem Mal hellwach. Doch der Traum ging weiter: Adrians Stimme verfolgte sie.
»Clarissa? So sag doch was. Es ist stockfinster. Verflixt, ich seh nichts.«
»Adrian?«, murmelte sie verschlafen.
»Clarissa?« Sein heiseres Flüstern durchdrang die Dunkelheit, es kam von irgendwo unterhalb des Bettendes.
Clarissa schüttelte benommen den Kopf. Es ist bloß ein Traum, dachte sie. Es war mitten in der Nacht. Er konnte gar nicht in ihrem Schlafzimmer sein. Oder etwa doch?
»Autsch.«
Was um alles in der Welt …? Clarissa setzte sich ruckartig im Bett auf und starrte ungläubig in die Dunkelheit. »Adrian, bist du das?« Vor lauter Schreck duzte sie ihn.
»Ja. Wo bist du? Verdammt, ich seh nichts. Sprich einfach weiter. Ich folge deiner Stim… Autsch! Ich glaub, ich spinne. Wieso stehen da mitten auf
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