Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
mühsam ein leise bekräftigendes »Hmmm« ab. Er begleitete Clarissas Vater nach unten in den Salon. Ein Glas Brandy würde ihnen bestimmt guttun, fand er. Kaum dass er die Tür aufzog und den Raum betrat, blieb er indes wie angewurzelt stehen. Lady Lydia Crambray saß hingegossen auf der Ottomane, ihr Gesicht emotionslos.
»Na, was hat sie diesmal angestellt? Hat sie mal wieder das Haus in Brand gesetzt? Oder ist sie gestolpert und hat sich die Zehe angestoßen?«, fragte sie, ihre Stimme kalt wie Eisnadeln.
Adrian kochte vor Wut. John Crambray, der neben ihn getreten war, funkelte seine Frau vernichtend an. »Sie wurde vergiftet. Und da du bekanntermaßen die einzige Person bist, die Clarissa so sehr hasst, dass sie ihr etwas antun würde, wäre ich an deiner Stelle nicht so überheblich. Wenn sie stirbt, bist du nämlich diejenige, auf die der Verdacht fallen wird. Glaub mir, dann bring ich dich eigenhändig um.«
16
Clarissa öffnete schläfrig die Lider und blinzelte hinüber zu der leeren Betthälfte neben ihr. Anscheinend war Adrian schon auf. Das war ungewöhnlich. Wenn er sonst vor ihr aufwachte, küsste und herzte er sie so lange, bis sie auch wach wurde. Sie liebte es, wenn der Tag so anfing.
Obwohl, sann Clarissa, heute hätte sie seine Zärtlichkeiten womöglich gar nicht genießen können, denn sie fühlte sich ein bisschen schlapp, hatte leichtes Halsweh und Magendrücken. Hoffentlich brütete sie nicht irgendwas aus. Sie rollte sich leise seufzend auf den Rücken und hätte vor Schreck beinahe laut aufgekreischt, weil sich unvermittelt ein altes faltiges Gesicht über sie beugte.
»Kibble«, japste sie. Sie klemmte Laken und Bettdecke an ihre Brust und starrte ihn mit großen Augen an. »Was …?«
»Wie fühlen Sie sich, Mylady?«, unterbrach der Butler sie sanft.
»Ich …« Clarissa krauste die Stirn, ihr Gedächtnis begann erst allmählich wieder zu funktionieren. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie sich am Spätnachmittag hingelegt hatte. Aber das helle Licht, das ins Zimmer flutete, ließ darauf schließen, dass jetzt früher Nachmittag war. Angestrengt durchforstete sie ihr Hirn, brachte bruchstückhafte Erinnerungen zusammen, wie Mrs. Longbottom und Kibble ihr hochhalfen und ihr begütigend zuredeten, weil ihr sterbensübel gewesen war.
»Ich hab mich entsetzlich schlecht gefühlt«, meinte sie gedehnt.
»Ja«, bekräftigte Kibble.
»Sie und Mrs. Longbottom haben nach mir geschaut.«
»Die anderen Angestellten im Übrigen auch«, bekannte Kibble seelenruhig. »Wir waren alle sehr besorgt um Sie, Mylady.«
»Oh. Was war denn mit mir? Hatte ich etwa Grippe?«, stammelte Clarissa milde betroffen.
»Woran können Sie sich noch erinnern?«, bohrte der Butler.
Clarissa zog die Unterlippe zwischen die Zähne und dachte scharf nach. »Ich bin in mein Zimmer gegangen, um Lydia zu entw–, ähm … um mich ein bisschen auszuruhen«, korrigierte sie sich schnell. Dass ihre Stiefmutter eine Strafe Gottes war, mussten die Angestellten nicht unbedingt erfahren. Sie war froh, dass ihr Vater und ihr Mann gut miteinander auskamen und den gemeinsamen Ausritt genossen hatten; leider hatte sie sich in der Zwischenzeit Lydias gemeine Kommentare anhören müssen, wie grässlich doch die Hochzeitsnacht für eine junge Braut sei und dass ihre Stieftochter sich gewiss davor entsetzen würde, wenn sie das Gesicht ihres Mannes erst mal mit Brille sehen könnte – falls er ihr jemals wieder eine Brille kaufen würde. Womöglich ließ er sie lieber weiter halb blind herumlaufen, meinte ihre Stiefmutter gehässig.
Clarissa hatte es mit Fassung getragen und ihr Geheimnis, dass sie bereits eine Brille besaß, für sich behalten. Nicht lange, und sie hatte sich in ihr Zimmer geflüchtet, um zu lesen. Sie hatte wie üblich beide Türen verbarrikadiert und es sich mit ihrer Lektüre auf dem Bett gemütlich gemacht. Diesen Teil der Geschichte erzählte sie Kibble natürlich nicht, weil sie Bedenken hatte, Adrian könnte sie mit Brille sehen und hässlich finden.
»Als ich in mein Zimmer kam, stand ein Stück Torte auf meinem Nachtschränkchen«, berichtete Clarissa stattdessen.
»Sie haben es also nicht selbst mit hochgenommen?«, wollte Kibble wissen.
»Nein. Ich dachte, Frederick hat es mir vielleicht hingestellt. Er scharwenzelt öfters um mich herum und bringt mir kleine Aufmerksamkeiten.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich hatte zwar keinen Hunger, aber um seine Gefühle nicht zu
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