Liebe auf den zweiten Kuss
Wenn sie aber bei mir bliebe, könnte ich sie ohne jedes schlechte Gewissen behalten.«
»Und wenn sie sich auf den Rücken rollt und jämmerlich zu winseln anfängt?«
»Das ist dasselbe«, erwiderte Nell. »Das hat sie auch getan, als ich sie entführt habe. Bald wird es dunkel. Wir könnten es hinter uns bringen, bevor mich der Mut wieder verlässt.«
»Jetzt gleich? Hör zu, ich bin damit nicht einverstanden. Ich liebe diesen verdammten Hund ebenfalls. Außerdem besitzt sie mittlerweile eine Garderobe. Wird Farnsworth ihr eine lederne Bomberjacke für kühlere Nächte besorgen?«
»Budge klammert sich an Margie, weil er sie liebt«, sagte Nell. »Das tut er wirklich. Ich fand ihn vorhin schrecklich, aber er war nicht gemein. Er war sehr liebevoll zu ihr. Er glaubt, dass es in Ordnung ist, weil er sie liebt. Das kann ich ihm nicht verübeln und gleichzeitig Marlene aus demselben Grunde für mich behalten.«
»Für mich gibt es da sehr wohl einen Unterschied«, konterte Suze, klang jedoch nicht sehr überzeugend.
»Margie dreht noch durch vor Frustration und Schuldgefühlen. Ich fand es zwar immer sehr amüsant, wie sie alles mit einem ›vielleicht wird es ja jemand erfahren‹ regelt, aber ich mache es mit Marlene genauso. Was ich mir wünsche, ist ein sauberer Schnitt und keine Schuldgefühle mehr.« Sie holte tief Luft. »Ich muss es tun. Und dann müssen wir Gabe von Margie erzählen.«
»Na wunderbar«, meinte Suze tonlos. »Nichts kann einem den Abend so gründlich verderben wie moralische Prinzipien.«
Kurz nach acht, die Sonne war bereits untergegangen, führte Nell eine unbekleidete Marlene zu ihrem alten Garten. Dort angekommen, befreite sie Marlene von Leine und Halsband und sah ihr tief in die Augen. »Ich liebe dich, Marlene«, sagte sie. »Ich werde dich immer lieben. Aber hier ist dein Zuhause. Wenn du wieder dorthin zurückkehren möchtest, ist das in Ordnung.« Marlene rührte sich nicht, und Nell fuhr fort: »Wenn du andererseits wieder mit mir zurückkommen willst, ist das auch in Ordnung.«
Marlene gähnte und sah sich um. Dann schien sie etwas Interessantes entdeckt zu haben, denn sie trottete auf das Grundstück.
So viel also zu dem alten Spruch, wenn du etwas wirklich liebst, entlasse es in die Freiheit, dachte Nell, als sie aufstand und den Hund beobachtete. Die Tiefe von Marlenes Gefühlen war ihr immer ein Rätsel geblieben. Nell wollte ihr hinterher rufen: »Du verlierst die Chenilledecke, hast du das bedacht?« Doch das einzige Wort, auf das Marlene wirklich reagiert, war »Hundekuchen«. Das zu benutzen schien unter diesen Umständen freilich nicht angebracht.
Marlene durchstöberte eine Weile lang den Garten, dann setzte sie sich gelangweilt nieder. Jetzt fiel Nell auf, was sie in ihrem Plan nicht bedacht hatte. Farnsworth konnte nicht wissen, dass Marlene in seinem Garten saß und darauf wartete, ins Haus eingelassen zu werden. Nell konnte unmöglich bei ihm an die Tür klopfen und sagen: »Hallo, ich habe vor sieben Monaten Ihren Hund gestohlen. Die Schuldgefühle haben schließlich die Oberhand gewonnen. Hier haben Sie das Tier zurück. Und tschüss.«
Währenddessen hockte Marlene mitten im Garten und blickte missmutig drein. Was auch immer ihr Interesse hervorgerufen hatte, war verschwunden.
Also gut. Nell nahm einen Stein und warf ihn gegen die Hintertür. Ein lautes, deutliches Plong war zu hören. Sie wich wieder ins Gebüsch zurück, doch nichts passierte. Auch gut. Sie nahm ein zweites Steinchen und warf es. Plong. Nichts.
Marlene beobachtete den Vorgang interessiert und verfolgte zweimal aufmerksam, wie der Stein aus Nells Hand bis zur Hintertür flog, ohne auch nur im Mindesten daran zu denken, ihm hinterher zu jagen.
»Einen noch«, meinte Nell und warf einen dritten Stein.
Dieses Mal öffnete eine Frau die Tür, und der größte deutsche Schäferhund, den Nell jemals zu Gesicht bekommen hatte, stürmte heraus und bellte wie der Hund von Baskerville.
Marlene machte blitzartig kehrt, rannte auf die Grundstücksgrenze zu und hastete an Nell vorbei, bevor diese sie zu fassen bekam. Nell folgte ihr fast ebenso schnell und betete, dass Farnsworth für seine Hunde immer noch elektronische Halsbänder benutzte und dass der Schäferhund nicht zu schnell rannte, um davor rechtzeitig gestoppt zu werden. Sie sah, wie Marlene Richtung Straße rannte und Suze die Tür ihres Käfers öffnete. Marlene krabbelte in den Wagen und dann über Suze hinweg, während Nell die
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