Liebe auf den zweiten Kuss
fair, diese Frau im Pullover in eine Bar zu schicken«, hatte er Gabe und Nell gegenüber argumentiert. »Kein Mann hat da eine Chance.« Bei ihrem nächsten Einsatz trug Suze daher eines von Nells grauen Kostümen, ihr helles Haar in einem Knoten zusammengefasst, und wirkte darin sogar noch erotischer. »Ihre Ausstrahlung erinnert an Grace Kelly«, meinte Riley. Suze dagegen bemerkte lediglich: »Dieser Look gefällt mir.«
Nell gab ihr daraufhin all ihre alten Kostüme, die grauen und graublauen und die anthrazitgrauen, und in allen wirkte Suze wie eine elegante und unterschwellig gefährliche Frau statt wie ein Mädchen vom College. Suze erzählte, dass Jack die Kostüme nicht ausstehen konnte, was sie offenbar eher als Plus betrachtete, also machte sich Nell keine Sorgen. Im Gegenzug erbte Nell Suzes kunterbunte Garderobe und hatte jeden Morgen die Qual der Wahl zwischen Cashmerepullover und Seiden-T-Shirts in allen Farben des Regenbogens. Auch das schien Gabe nicht zu bemerken. Jeden Morgen wurde Nell beim Aufwachen von Marlene begrüßt, die an ihre schlimme Vergangenheit zwar immer noch erinnerte, wenn sie einen Hundekuchen wollte, aber nicht mehr ständig winselte. Gelegentlich raffte sie sich sogar zu einem schnellen Trab auf, wenn Futter lockte. Eigentlich hatte Nell beabsichtigt, sie untertags in der Wohnung zurückzulassen, doch schon beim ersten Mal hatte Marlene sich den ganzen Tag über lauthals beklagt. Was Doris wenig amüsant fand. Und da sie in Folge Nells vorsichtig formulierter Nachfragen über die Sachen, die Lynnie zurückgelassen hatte, ohnehin leicht angesäuert war, begleitete Marlene Nell also ins Büro, gekleidet in einen hellbeigen Trenchcoat, den Suze ihr gekauft hatte. Den ganzen Weg vom Appartement zur Agentur untersuchte sie dabei den Asphalt mit demselben pessimistischen Argwohn, mit dem sie die Welt im Allgemeinen bedachte. In der Agentur angekommen, blieb sie bei Riley, wenn dieser da war, und erreichte mit ihrem melodramatischen Augenaufschlag, dass er sie mit Leckerbissen verwöhnte und ihr mit dem Fuß den Bauch kratzte. »Frauen«, seufzte Riley, wenn sie ihn verführerisch anschmachtete, worauf sie als Antwort ein wenig wimmerte. »Eine wirklich krankhafte Beziehung«, bemerkte Gabe einmal, aber er verbannte Marlene nicht aus dem Büro. Da Farnsworth sich nie wieder hatte blicken lassen, fühlte sich Nell relativ sicher, sie mitzubringen, wenngleich sie nach wie vor ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie den Hund gestohlen hatte. »Falls er den Hund wirklich nicht misshandelt hat, habe ich ihm seinen Liebling geraubt«, gestand sie Riley, der trocken »Und das fällt dir erst jetzt ein« erwidert hatte.
Währenddessen – und trotz Budges Abneigung – machte Margie die Arbeit im Café Spaß. Das wiederum bedeutete, dass Chloe ohne Bedenken tun konnte, was sie geplant hatte – nämlich mit Lus Eurorailpass nach Frankreich aufzubrechen. »Wohin ist sie geflogen?«, war alles, was Gabe dazu sagte. Anfangs hatte sich Nell gefragt, ob er nicht möglicherweise seine Sehnsucht nach Chloe absichtlich vor ihr verbarg, als sie Postkarte um Postkarte auf seinen Schreibtisch legte. Auf allen stand »Amüsiere mich großartig« und irgendeine Bemerkung über die Ansicht auf der Vorderseite. Nirgends aber fand sich »Ich vermisse dich«. Das musste schmerzen, dachte Nell, doch nachdem sie sechs Wochen für ihn gearbeitet hatte, war ihr klar, dass er mit den Dingen nicht hinter dem Berg hielt. Wenn er wütend war, bekam sie es zu spüren; war er depressiv, blieb es ihr nicht verborgen; und wenn er sich in etwas verbiss, erfuhr sie ebenfalls rasch davon. Es war erfrischend für jemanden zu arbeiten, der derart geradlinig war. Die Tage vergingen wie im Fluge, und das Einzige, was sie gelegentlich überschattete, waren die unausweichlichen Auseinandersetzungen, wann immer sie etwas in seiner Agentur für ihn veränderte. »Glauben Sie bloß nicht, ich sehe nicht, was Sie tun«, sagte er zu ihr im November, als sie den alten Perserteppich aus dem Eingangsbereich in einem Schrank unter der Kellertreppe verstaut und durch einen neuen goldgrauen Teppich mit William-Morris-Muster ersetzt hatte.
»Er sieht doch hübsch aus, nicht wahr?«, fragte Nell. »Nein«, erwiderte Gabe. »Er sieht neu aus, und wir brauchen ihn nicht.«
»Und was die Visitenkarten betrifft...«
»Nein«, sagte er und schlug ihr die Tür seines Büros vor der Nase zu.
Einen Tag später versuchte Nell, den Aktenschrank
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