Liebe braucht keinen Ort
Kindern ließ sich am leichtesten arbeiten, besonders wennLiza ihnen erzählte, dass sie ihnen einen leuchtenden roten oder blauen Stern auf die Stirn malen würde. Aber die Erwachsenen wehrten sich und ihre Körper waren starr vor Furcht und völlig verschlossen vor Liza.
Sie überprüfte die Patienten, so schnell sie konnte, unterdrückte dabei die ständige Sorge, dass sie falsche Entscheidungen treffen könnte, Dinge übersah, die jemanden das Leben kosten könnten. Alle Empathen waren wegen dieses Notfalls ins Krankenhaus gekommen, und die meisten fühlten sich wahrscheinlich genauso wie sie. Liza sah die Abteilungsleiterin und beinahe alle Lehrer und Ausbilderinnen in der Menschenmenge. Einmal, als sie mit einer Diagnose zögerte, kam ihre Beraterin zu ihr herüber und nahm sie sanft zur Seite. »Ich weiß, dass es schwierig ist«, sagte sie, »aber du darfst dich nicht von der Angst besiegen lassen, Liza. Im Augenblick ist das unsere beste Option, und jede deiner Entscheidungen, sogar wenn es ein Fehler ist, hilft uns, mehr zu lernen. Verstehst du das?«
Liza nickte und versuchte, diesen Gedanken immer im Kopf zu behalten, während sie weiterarbeitete. Im Laufe der Stunden wurde sie sicherer. Winzige Anzeichen und Muster begannen sich zu zeigen und sie bezog sie in ihre Entscheidungen ein. Am späten Nachmittag konnte sie zweimal so viele Patienten in der Stunde testen wie am Anfang. Doch ganz gleich, wie viele sie schaffte, es waren immer noch mehr da.
Sie hatte gerade einen Mann mittleren Alters in die Notfallbehandlung geschickt und fragte sich, ob sie lange genug aus der Abteilung weggehen könnte, um sich einen Saft zu holen, als sie einen plötzlichen Ruck des Wiedererkennens verspürte. David Sutton war im Raum, bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und kam geradewegs auf sie zu. Er trug ein Kind in den Armen, ein Mädchen von etwa zehn Jahren, das am Randeder Bewusstlosigkeit schwebte. Als er bei Liza angekommen war, hielt er ihr das Mädchen entgegen und sagte: »Dieses hier.«
Liza brauchte keine ihrer Fertigkeiten als Empathin, um eine Diagnose zu erstellen. Das Mädchen war kreidebleich und hatte den seltsamen, versunkenen Gesichtsausdruck eines Menschen, der an inneren Blutungen litt. Liza schaute sich im Raum um. Es waren keine fahrbaren Krankenhausbetten frei, aber sie konnte sich einen der Ärzte schnappen, der einen Rollstuhl holte und das Mädchen persönlich in den OP brachte. Als Liza sich David zuwandte, schaute er sie mit flehenden Augen an.
»Es sind noch mehr hier«, meinte er und deutete auf die Menschenmenge vor den Türen der Notaufnahme. »Ein ganzer Bus voller Kinder. Der Fahrer ist hinter dem Lenkrad gestorben und dann ist der Bus verunglückt.«
»Alle verletzt?«
»Ich kann es nicht sicher sagen, aber ich denke, die meisten schon.«
»Beug dich mal ein bisschen herunter.« Liza zeichnete ihm mit dem Leuchtmarker rasch eine grüne Linie auf die Stirn, nahm dann ihr eigenes Schild »Notfallhelfer Höchste Priorität« von ihrer Kleidung und befestigte es an seinem Hemd. »Damit kommst du schnell rein und raus. Schnapp dir jeden, den du kriegen kannst, um die Kinder so schnell wie möglich hier hereinzubringen.«
Sie ging zur Oberschwester der Notaufnahme und erklärte ihr die Lage, und als David und die freiwilligen Helfer, die er gefunden hatte, anfingen, die Kinder hereinzubringen, hatte Liza schon in einem der Untersuchungszimmer einen Spezialplatz für sie eingerichtet. Wunderbarerweise hatte jemand ein fahrbares Krankenbett gefunden, und zwei Notfallkrankenschwestern standen bereit, um Erste Hilfe zu leisten.
Im Laufe der nächsten beiden Stunden brachten sie alle dreiunddreißig Kinder aus dem Bus herein und leiteten sie entweder zur Behandlung weiter oder schickten sie nach Hause. David hielt leicht mit ihr Schritt und schien immer schon vorauszuahnen, was sie als Nächstes brauchen würde, ohne dass sie etwas sagen musste. Ihre reibungslose Zusammenarbeit in diesem beengten Raum erfüllte Liza mit einem ruhigen Wohlbefinden. Sie hätte es nicht erklären können, aber wenn sie neben David stand, fühlte sie sich stärker.
Als sie das letzte Kind weitergeschickt hatten, damit man ihm den gebrochenen Arm schiente, und ihren Platz im Untersuchungsraum wieder geräumt hatten, war es schon zehn Uhr abends. Die Notaufnahme war noch immer überfüllt, aber nun wartete keine Menschenmenge mehr vor der Tür und die meisten Untersuchungsplätze draußen waren
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