Liebe braucht keinen Ort
Sie war wie beschwipst von seinem Kuss und den hellen Lichtern, die ringsum tanzten. »Ich wünschte, ich hätte eine Wohnung, in die wir gehen könnten. Wir dürfen am Fordham Square keine Besucher mitbringen.«
»Liza … «
»Aber du hast doch eine Wohnung«, flüsterte sie. »Ich habe noch bis morgen Abend frei. Ich muss nicht ins Wohnheim zurück. Wenn ich Rani anrufe, erfindet sie was und deckt mich. Rani kann so was toll.«
David löste sich sanft von ihr. »Ich kann das nicht, Liza.
Wir
können das nicht.«
»Warum nicht?« Ein schmerzlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht. Plötzlich strömten all ihre Zweifel und ihre Unsicherheit in ihre Gedanken zurück. »Hat es was mit mir zu tun? Hab ich was falsch gemacht?«
Vielleicht war er raffiniertere Mädchen gewöhnt. Coolere Mädchen, die nicht gleich mit ihren Gefühlen herausplatzten. Sie dachte an den Vorschlag, den sie gerade gemacht hatte, und auf einmal war sie furchtbar verlegen. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Hatte diese eine Bemerkung alles zwischen ihnen zerstört? Sie spürte, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. Er schien es im Licht des Mondes bemerkt zu haben, denn er wischte ihr die Träne mit dem Daumen weg und küsste Liza dann auf den Scheitel.
»Es liegt nicht an dir, Liza. Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Dann sag mir, was nicht stimmt.«
»Das kann ich nicht«, flüsterte er. »Es ist zu kompliziert und zu gefährlich. Es gibt Dinge, die du über Omura besser nicht erfahren solltest.«
Mit jeder Faser ihres Wesens wollte sie weiterbohren, weiterfragen, bis er ihr die Wahrheit sagte. Aber sie schwieg. Fürs Erste musste sie ihm einfach vertrauen. Sie versuchte, dieses Vertrauen zu ihm herüberfließen zu lassen, aber er war in einer dunklen, abweisenden Stimmung. Zu allem Überfluss sah sie dann auf dem Nachhauseweg im Vactrain noch das Mädchen mit den schwarzen Wasserfallhaaren und meinte zudem zu bemerken, dass das Mädchen und David einander einen wissenden Blick zuwarfen.
Kapitel 6
Die zweite Welle
Sobald Mrs Hart die Tür aufmachte, spürte Liza die Helligkeit. Es lag nicht nur an dem eleganten Armband, das sie trug, dem Imitat eines der Stücke aus
Neptuns Tränen
. Es war etwas, das durch die offene Tür geströmt kam, als wäre die Luft drinnen heller und leichter als draußen.
»Komm herein, Liza, meine Liebe. Wie schön, dich wiederzusehen.«
Mrs Hart konnte unmöglich wissen, wie sehr Liza sich freute, dass sie hier war. Beinahe eine Woche lang hatte sie angespannt gewartet, weil sie nicht wusste, ob man ihr erlauben würde herzukommen oder nicht. Mrs Hart hatte ausdrücklich darum gebeten, dass Liza während des letzten Stadiums ihrer Krankheit zu Hause mit ihr arbeitete. Das war eine große Ehre, vor allem so früh in ihrer Laufbahn als Empathin, hatte ihre Beraterin ihr erklärt, aber auch eine ebenso bedeutende Verantwortung. Es ging um viel mehr als nur darum, der Patientin mit ihren körperlichen Schmerzen zu helfen. Liza würde ihr beistehen müssen,wenn sie dem Ende ihres Lebens entgegenging, eine Aufgabe, die nicht nur Geschicklichkeit und eine gute Beziehung zur Patientin erforderte, sondern auch die nötige geistige Reife, um alle eigenen Vorstellungen und Werte denen der Patientin unterzuordnen. Empathen hörten oft Dinge – Wut und Beschwerden, Beichten und Schuldgeständnisse –, die die Patienten keinem anderen mitteilen konnten. Empathen neigten von Natur aus oft dazu, dem Patienten den Weg zu erleichtern, indem sie die Situation für ihn bereinigten oder ihn zu einer anderen Sichtweise bewegten, aber genau das durften sie nicht tun. Wie Lizas Beraterin es formuliert hatte: »Diesen einen Fluss musst du ganz allein fließen und seinen Weg ins Meer finden lassen.«
Lizas Jugend und Mangel an Erfahrung allein waren Grund zur Besorgnis, aber da war auch noch die Sache mit dem unter dem Namen David Sutton bekannten Patienten gewesen, bei dem Liza die Schranken zwischen ihrem privaten und beruflichen Selbst als Empathin völlig verloren hatte, sodass sie keine Verbindung zu dem Patienten hatte aufnehmen können und ihm daher auch nicht hatte helfen können. Die Beraterin hatte Lizas Bericht über diesen Vorfall gelesen. Liza hatte sich dazu entschlossen, erst einmal nicht zu erwähnen, dass sie David inzwischen in ihrer Freizeit wiedergesehen hatte, es sei denn, es wäre unbedingt erforderlich, aber sie hatte darauf hingewiesen, dass er nach dem Schockbombenattentat
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